Veröffentlicht am 4. Juni 2024

Festtag der ehemaligen Reichsstadt Reutlingen

 

Reutlingen gehörte bis 1802 zu den Freien Reichstädten in Deutschland, in denen vielfach Schwörtage abgehalten wurden

In Reutlingen war der Schwörtag in der Reichsstadtzeit das zentrale politische Ereignis und zugleich ein allgemeiner Festtag – „ein Tag demokratischen Frohsinns“, wie ihn der Chronist Christoph Friedrich Gayler im 19. Jahrhundert bezeichnete. Die Bedeutung des Schwörtags erklärt sich aus der Verfassung der Reichsstadt von 1374 mit ihren zünftisch-demokratischen Beteiligungsformen. Die in Zünften organisierte Bürgerschaft der Reichsstadt wählte in einem komplizierten Verfahren jedes Jahr aufs Neue die eigene Regierung des kleinen Stadtstaates: die Bürgermeister, den großen und kleinen Rat, den Magistrat sowie die Amtsträger der 12 Zünfte. Sämtliche Wahlen fanden innerhalb einer Woche, zuerst vor dem Sankt Jakobstag, ab 1574 am 2. Sonntag nach dem Ulrichstag, dem 4. Juli statt. Der Schwörtag, die Verkündung des neugewählten „Senats“, wie die Ratsobrigkeit in den Quellen auch genannt wurde, und die anschließende Wahl und Vereidigung der Bürgermeister sowie der Schwur der „Gemeind“ standen am Ende der Schwörwoche. Mit der gegenseitigen eidlichen Verpflichtung von Regierung und Regierten, oftmals nach innerstädtischen Konflikten, wurde der Konsens darüber, wer in der Stadt für ein Jahr das Sagen hatte, beschlossen.

Spezielle kulturelle Formen prägten den Schwörtag: Ein Aufmarsch der festlich gekleideten Zunftmitglieder in mit ihren Fahnen auf dem Schwörhof (heutiges Friedrich-List-Gymnasium) begleitete das Zeremoniell. Die Bürgerschaft zeigte sich in ihrer ganzen Machtfülle und schwor auf die reichsstädtische Verfassung. Nach dem Schwur erfolgte der nach einer genauen Rangfolge geordnete Zug in die Marien¬kirche mit den Fahnen und den reichsstädtischen Insignien. Musik begleitete den Umzug, vom Kirchturm erklang „Instrumentalmusik“. Im Anschluss an den Gottesdienst wurde der Amtsbürgermeister von der bewaffneten Mannschaft und mit den Zunftfahnen nach Hause begleitet, wo ihm zu Ehren das sogenannte „Fahnenflaigen“ abgehalten wurde.

Im Jahr 1802 fand der letzte Schwörtag statt. Im November dieses Jahres verkündete der württembergische Herzog Friedrich II. mit dem Besitzergreifungspatent für Reutlingen das Ende als Reichsstadt – damit verschwand auch die Tradition des Schwörtags.  

Zahlreiche Zeitgenossen bestätigten im 18. Jahrhundert den demokratischen Charakter der Reutlinger Verfassung. Die Schwörwoche – unter anderem mit dem „auseligen Montag“, dem Festtag der Weingärtner – war geprägt von zahlreichen Ritualen (wie dem Fahnenflaigen, dem Turmblasen oder dem Böller- und Salutschießen) und Reutlinger Spezialitäten, die sich bis heute erhalten haben: Es gab z.B. unter anderem Mutscheln, Fochezenplätz und Kimmicher.

Die Weingärtnerzunft hat Elemente der Schwörwoche bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts überliefert. Das Reutlinger Heimatmuseum erinnerte mit einem Museumsfest ab 1998 an den reichsstädtischen Festtag. Oberbürgermeisterin Barbara Bosch begann 2005, den Schwörtag als Bürgerfest auf dem ehemaligen Schwörhof beim Friedrich-List-Gymnasium zu etablieren.

2021 hat die Deutsche UNESCO-Kommission dem gemeinsamen Antrag der Städte Reutlingen, Ulm und Esslingen am Neckar entsprochen und die heute noch lebendigen Schwörtagstraditionen in diesen einstigen Reichsstädten in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Der Reutlinger Geschichtsverein unterstützte die Stadt Reutlingen bei der Erneuerung der Schwörtagstradition und begleitet seither die Durchführung – vor allem mit dem Vortrag am Freitag vor dem Schwörsonntag. 

Weiterführende Literatur:

Werner Ströbele: Zur Geschichte des Reutlinger Schwörtags, in: Reutlinger Geschichtsblätter, Jahrgang 2021, Neue Folge Nr. 60, S. 9-54.

Werner Ströbele: „Ein Tag demokratischen Frohsinns!“ Schwörtage in Ulm, Reutlingen und Esslingen als Immaterielles Kulturerbe, in: Schwäbische Heimat, 72. Jahrgang 2021, Heft 3, S. 82-89.

Anna Christina May: Schwörtage in der frühen Neuzeit, Ursprünge, Erscheinungsformen und Interpretationen eines Rituals, Ostfildern 2019.

Schwörtag 2019 mit OB Thomas Keck
Schwörtag 2019 mit Oberbürgermeister Thomas Keck. Foto: Stadt Reutlingen