Von Spinnstuben, Trachtenpaaren und Wirtshäusern
Vortrag zum Schiedweckentag 2024 von Dr. Martina Schröder
Der hier veröffentlichte Text wurde von Martina Schröder im Rahmen des Schiedweckenabends des Geschichtsvereins am 8. März 2024 vorgetragen. Aus rechtlichen Gründen können einige der beschriebenen Bilder hier nicht abgebildet werden. Wir bitten um Verständnis.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Mit dem Schiedwecken endete die Zeit der Spinnstuben. Von diesem Abschlussabend mit gefüllten Wecken oder Pasteten kann ich Ihnen leider kein Bild aus der Betzinger Künstlerkolonie zeigen. Denn die Künstler haben dieses – wie man heute sagen würde – kulinarische Event nicht dargestellt. Allerdings war die Spinnstube bereits früh als Motiv bekannt. Sie sehen hier aus dem Hofkalender Württemberg von 1790 den Stich „Der Nachtkarz“. Im Kalender wurden die „Nationalgebräuche und Ergötzlichkeiten des Wirtembergischen Landvolks“ mit 12 Bildern vorgestellt, die jeweils einem Monat zugeordnet waren. Für den Dezember stand die Spinnstube. Die Darstellung zeigt aber nicht die Arbeit der Mädchen am Spinnrad, sondern das fröhliche Miteinander der Jugend am Ende einer Lichtstube – sozusagen den beliebten Freizeittreff.
Der erste Künstler, der in Betzingen eine Spinnstube darstellte, war der Stuttgarter Louis Braun. Er hielt im Winter 1863 in seinem Skizzenbuch Tanz und trautes Zusammensein der Landjugend mit Bleistift und Pinsel fest. Zwei Jahre später verarbeitete er diese Skizze zu der Radierung „Der Lichtkarz in Betzingen“, die in der damals populären Leipziger „Illustrierten Zeitung“ mit einem ausführlichen Text veröffentlicht wurde. Unter der Überschrift „Aus dem württembergischen Volksleben“ erklärt der Autor den Brauch und erwähnt zudem, dass weltliche wie kirchliche Obrigkeiten das „ungesezliche Zusammenseyn der Geschlechter“ immer wieder zu verbieten suchen. Das lässt sich auch archivalisch belegen. So bemerkte das Oberamt Reutlingen 1860 bei einer Gemeindevisitation „mit Befremden“, dass aus den Protokollen des Kirchenconvents hervorgehe, „daß den ledigen Burschen der Besuch der Lichtkärze gleichzeitig mit ledigen Mädchen gestattet“ werde. Dieser in keiner anderen Gemeinde des Oberamtsbezirks vorkommende Unfug sei ein für alle Mal abzustellen.
Allerdings ließ sich die Dorfjugend davon nicht beeindrucken, wie der Stuttgarter Künstler Robert Wilhelm Heck in seinem Stich „Die Spinnstube“ aus dem Jahr 1869 zeigt. Heck hatte, wie auch Louis Braun zuvor, selbst eine Spinnstube besucht. Über seine dort gemachten Beobachtungen verfasste er im Januar 1858 ein mehrseitiges Gedicht mit dem Titel „Lichtkarz“, das in der Schrift „Neue Lieder“ des Bruderhauses Reutlingen vom November 1862 handschriftlich erhalten geblieben ist. Darin beschreibt Heck die Lichtstubenhalterin Evamareile als Greisin, die sich vor allem darum kümmert, dass die Petroleumlampe auf dem Tisch nicht ausgeht. Zuerst sind die Mädchen noch unter sich. Heck erwähnt die siebzehnjährige Margarethe, die „spann, aus der flächsernen Kunkel / Faden um Faden entziehend und / drehend am schnurrenden Rädchen.“
Er beobachtet genau die Kleidung der Mädchen und dichtet: „anders umwallt sie der Rock, der / schwarze mit dunkeler Schürze, / welcher die Lenden, die mächtigen / deckte und zeigte, / anders trug sie das Haupt mit den /kraftvoll entwickelten Formen ueber dem Busen, das eng ihn umschließenden Mieder /nahezu sprengend mit trotzig aufwallender Fülle“. Gegen Ende des Abends tritt die männlichen Jugend auf: „nun herein kommt geschritten, bedächtig mit sicherem Gange / ….ein Duzend von kräftigen Burschen / Wie auf Kommando sich sezend ganz dicht zu den spinnenden Mädchen“. Die Stubenhalterin Evamareile ermahnt zwar, dass der Pfarrer dies nicht erlaube, da es nicht sittlich sei. Doch diese Ermahnung beeindruckt die Jugend nicht. Lieder werden gesungen und es herrscht knisternde Spannung zwischen den Geschlechtern. Als kurz mal die Petroleumlampe erlischt, hört man, so Heck, „leises Gekose“ bis ein neues Streichholz gefunden ist. Trotz aller erotischer Anspielungen bewahre aber die Jugend, so Heck, „die Kraft und die Reize der treufesten Liebe“.
Heck beschreibt in diesem Gedicht allerdings keine Tanzszene, wie er sie in seinem Stich von 1869 zeigt: Ein sich drehendes junges Paar in sonntäglicher Festtagstracht ist der zentrale Mittelpunkt seines Stichs. Vergleicht man das Bild von Heck mit dem von Louis Braun, dann fallen große Ähnlichkeiten auf: Bei beiden dominiert das Tanzpaar in der Mitte, ähnlich sind auch die szenische Anordnung der Paare rechts und links und die Lichtstubenhalter jeweils am rechten Bildrand vor dem Kachelofen. Vermutlich hat Heck den 1865 publizierten Stich seines Kollegen gekannt.
Sein eigenes Werk bereitete Heck mit verschiedenen Studien sorgfältig vor. Am 6. März 1869 hielt er in einem Skizzenbuch einige Szenen aus einer Spinnstube fest und notierte auch die Namen der Anwesenden: Martin Kehrer, Christoph Rühle, Johannes Digel, Barbara Jauch. Erhalten haben sich ebenfalls zwei Vorzeichnungen mit Bleistift: ein Mädchen am Spinnrad, die im ausgeführten Bild links ganz im Hintergrund sitzt, und ein Paar am Spinnrad, das ebenfalls im Hintergrund vor dem Kachelofen sitzt. Nach den Bleistiftstudien legte Heck eine erste Vorstudie des ganzen Gemäldes in Ölfarbe an, in der er Komposition, Lichtführung und Farbgebung überprüfte. Diese Studie konnte übrigens das Heimatmuseum Reutlingen im Jahr 2022 dankenswerterweise über eine Zwischenfinanzierung des RGV bei einer Auktion erstehen. Auf diese erste Anlage der Gesamtkomposition folgten weitere detaillierte Ölstudien von einzelnen Figurengruppen. Im Bild sehen sie die am 20. Oktober 1868 entstandene Einzelstudie von dem Paar am rechten Bildrand. Nur selten haben sich so viele verschiedene Vorarbeiten für ein Gemälde erhalten. Meist kennen wir nur das fertige Werk. Leider kann ich Ihnen in diesem Fall nur den Nachstich und nicht das fertig ausgeführte Gemälde „Die Spinnstube“ zeigen. Denn dieses wurde bereits kurz nach seiner Entstehung nach Amerika verkauft.
Nach dieser ersten Vorstellung von Werken aus der Künstlerkolonie Betzingen stellt sich jetzt die Frage: Warum kamen denn überhaupt Künstler nach Betzingen? Was suchten sie dort? Und seit wann kamen sie und aus welchen Regionen?
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Künstler in Akademien ausgebildet. Dort lernten sie vor allem das Zeichnen nach antiken Gipsmodellen. Die bedeutendste Kunstgattung war das großformatige Historienbild mit Themen aus der antiken Mythologie und der nationalen Geschichte. Gegen diese erstarrte klassische Ausbildung regte sich Widerstand. Die Künstler wollten Natur wie Realität unmittelbar erfassen, sie suchten nach neuen Themen und Gestaltungsformen. Nun wurde die Anschauung, das Studium vor Ort, zu einem wichtigen Teil der Ausbildung. Getragen von einer romantischen Vorstellung vom Landleben, nach der die Bauern noch ganz im Einklang mit der Natur und den Traditionen leben würden, wanderten die Künstler im Sommer auf Motivsuche in ländliche Gegenden. Die so genannte Studienreise wurde modern. Diese Motivsuche vor Ort bildete beispielsweise der in Reutlingen gebürtige Paul Wilhelm Keller in seinem Gemälde „Maler und Modell“ ab. Ein Maler skizziert das vor ihm auf der Wiese stehende Mädchen in Alltagskleidung, unter den zuschauenden Kindern hinter dem Künstler ist auch ein Mädchen in Betzinger Tracht zu sehen, das sicherlich dem Maler demnächst Modell stehen wird.
Die Künstler reisten in Gegenden, die sie gut erreichen konnten: Von der Kunstmetropole München aus entdeckten beispielsweise Maler im Jahr 1824 die Insel Frauenchiemsee, 1834 dann das Dorf Dachau. 1836 ließen sich in Frankreich mehrere Künstler im Dorf Barbizon nieder, dort wurde die spätere Kunstrichtung des Impressionismus vorbereitet. Im Laufe der Zeit etablierten sich solche Studienorte zu Künstlerkolonien, in denen sich Maler regelmäßig über Jahre hinweg trafen und größtenteils einen ähnlichen Malstil entwickelten.
Neben idyllischen Landschaften bevorzugten die Künstler auf ihren Studienreisen Gegenden mit malerischen Trachten. Neben dem Schwarzwald entwickelte sich im Königreich Württemberg das Dorf Betzingen zu einem überregional bekannten Trachtendorf. Zusammen mit der ehemaligen Reichsstadt Reutlingen gehörte es zu den Regionen, die 1806 in das neu geschaffene Königreich Württemberg eingegliedert wurden. Vor allem die sonntägliche Festtagstracht der jungen Mädchen mit ihrer auffälligen Farbigkeit in Rot-Grün-Tönen, die sich deutlich von anderen dunkelfarbigen württembergischen Trachten abhob, schätzte das württembergische Könighaus sehr. Ich zeige Ihnen hier die erste Darstellung einer Betzinger Tracht, eine Lithografie, die die Ebnersche Kunsthandlung in Stuttgart um 1830 herausgab.
Für die repräsentative staatliche Präsentation ländlicher Kultur spielte die Betzinger Tracht in den nächsten Jahrzehnten eine herausgehobene Stellung. Man könnte sogar sagen: Sie wurde zu einer Art württembergischer „Nationaltracht“, die durch Trachtengrafiken auch über Württemberg hinaus populär wurde.
Ein schönes Beispiel für diese offizielle Wertschätzung ist das Gemälde von Louis Braun, von dem Sie vorher den Stich der Spinnstube gesehen haben. Braun vollendete 1880 ein Gemälde, welches das Geschehen beim ersten Cannstatter Volksfest darstellt – allerdings über sechzig Jahre nach dessen Gründung. Nach schweren Hungerkrisen hatte der württembergische König Wilhelm I. 1818 ein „Landwirthschaftliches Hauptfest“ in Cannstatt eingeführt. Als Leistungsschau sollte es notwendige Agrarreformen in einem Land anstoßen, in dem noch die Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebte. Bei diesem Fest präsentierte sich der König vor der Kulisse der Ausstellungshallen und der Fruchtsäule seinen Untertanen. Der Künstler gibt im Gemälde einem Betzinger Paar eine ganz besondere Position im Vordergrund. Die Frau steht links, der Mann rechts neben dem Pferd des Königs. Dieser wird von den Betzingern sozusagen eingerahmt.
Nach der Frage ‚Warum kamen die Künstler aufs Land‘, ist noch ist die Frage offen, ab wann Betzingen als Studienort entdeckt wurde. Der erste, direkt nachweisbare Aufenthalt von Künstlern fällt in das Jahr 1844. Zwei in München lebende Maler, Caspar Kaltenmoser und Johann Baptist Kirner machten in diesem Jahr bei einer sommerlichen Studienreise Station im Echazdorf. Kaltenmoser stammte ursprünglich aus Horb und sein Malerfreund Kirner aus Furtwangen im Schwarzwald. Kaltenmoser hielt in seinem Skizzenbuch u.a. diesen Knaben in Weißkittel, Lederhosen, roter Weste, Halstuch und Schmerkappe sehr detailliert fest. Teilweise notierte er bei seinen Bleistiftskizzen auch Farbangaben zur Kleidung. Kirner zeichnete bei diesem Aufenthalt ebenfalls denselben Knaben wie auch ein junges Mädchen in Tracht.
Kaltenmoser verarbeitete kurz darauf diese Studienreise sogar zu einem dem Gemälde „Der Besuch der Künstler in Betzingen“. In einer großen Wohnstube sitzen drei Betzinger Bauern den Künstlern Modell, aufgeregt und neugierig betrachtet die Dorfgemeinschaft diese Aktion. Seinen Malerfreund Kirner platziert Kaltenmoser in der rechten Bildhälfte, wie er die drei Modelle mit dem Pinsel auf einem Skizzenblatt farblich festhält. Sich selber setzt Kaltenmoser in die Bildmitte, das Skizzenbuch auf den Knien, eine junge Betzingerin schenkt ihm gerade zur Erfrischung Wein oder Most ein.
Auch später rückte Caspar Kaltenmoser gerne die Betzinger ins Rampenlicht wie im Gemälde „Betzinger Wirtshausszene mit Kindern“ von 1865. Mit diesem Motiv griff er die Tradition des Wirtshausbildes auf, das in der niederländischen Genremalerei des 17. und 18. Jahrhunderts seine große Blütezeit hatte. Kaltenmoser schildert eine humorvolle Szene in einer süddeutschen Wirtsstube. Die Bauern am Tisch erlauben sich einen Scherz mit dem Jungen im Leinenkittel, der auf einem Schemel kniet. Mit dem zu großen Dreispitz auf dem Kopf möchte dieser wie ein Erwachsener wirken und trinkt aus einem großen Glas. Das verschmitzte Lächeln der Bauern legt nahe, dass es sich dabei wohl um sein erstes Glas Bier handelt. Auch die Schwester in Betzinger Tracht, die eine angebissene Brezel in der Hand hält, schaut lächelnd dem Treiben zu.
Johann Baptist Kirner verwertete ebenfalls zwei Jahre nach seinem Studienaufenthalt in Betzingen seine Skizzen in einem Gemälde mit dem historischen Titel „Die Kartenschlägerin“, gemeint ist im heutigen Sprachgebrauch eine Kartenlegerin. In einer Schwarzwälder Stube sitzt im Bildzentrum ein junger Mann an einem Tisch, gekleidet in der typischen Sonntagskleidung der unverheirateten Betzinger. Gerade hat ihm eine alte Frau mit Karten die Zukunft vorhersagt. Warum es in dieser Vorhersage geht, das bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen. Vielleicht handelt es sich ja um eine Liebesbeziehung zwischen ihm und der jungen Frau in der Tracht aus Furtwangen, die links im Türrahmen steht und erwartungsvoll lauscht. Für die damalige Zeit wäre diese Liebesbeziehung allerdings wegen der unterschiedlichen Konfessionalität der Partner nicht möglich gewesen: Denn die junge Schwarzwälderin ist Katholikin, erkennbar an dem Kreuz als Halsschmuck und der Betzinger ist Protestant. Als Hinweis darauf liegt im Korb ganz rechts im Bild eine Luther Bibel oben auf. Auch Kirner bereitete wie Heck seine Gemälde mit akribischen Ölstudien vor.
Erhalten hat sich die Studie des jungen Mannes, bei der der Künstler die für Betzingen typische Hemdschnalle auf dem schwarzen Halstuch detailgenau widergibt. Gleichzeitig legt Kirner in dieser Ölstudie den Gesichtsausdruck wie die Körperhaltung fest – gut nachvollziehbar macht er das Unbehagen wie die Ratlosigkeit sichtbar, die der junge Mann nach der Wahrsagung der alten Frau empfindet.
Nach diesen ersten Künstlerpionieren, die zu Fuß oder mit der Kutsche anreisten und das Trachtendorf eher sporadisch aufsuchten, nahm die Zahl der Künstler vor allem nach dem Eisenbahnanschluss von Betzingen im Jahre 1861 erheblich zu. Die Blütezeit der Künstlerkolonie fiel in die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, als die Genremalerei mit ländlichen Motiven beim bürgerlichen Publikum hoch im Kurs stand.
Allerdings konnten sich nur wenige die teuren Ölgemälde leisten. Auf das wachsende Bedürfnis der breiten Bevölkerung nach Bildern vom fröhlichen Landleben reagierten die damals populären illustrierten Zeitschriften wie „ Die Gartenlaube“, „Daheim“, „Über Land und Meer“ oder die „Leipziger Illustrierte Zeitung“ und veröffentlichten Nachstiche von Gemälden. Außerdem berichteten sie auch über den Künstlerort selbst. Beispielsweise veröffentlichte 1888 der Gartenlauben-Kalender eine Erzählung mit dem Titel „In der Rose zu Betzingen“, die vom Münchner Maler Fritz Bergen illustriert wurde. Die Geschichte handelt von Studenten aus Tübingen und einen Maler, die das Dorfleben beobachten und an einer Hochzeitsfeier teilnehmen.
Zu einem wichtigen Zentrum der Künstlerkolonie wurde das Gasthaus „Rose“ an der Steinachstraße, das sogar Eingang in die zeitgenössische Reiseliteratur fand. Max Eifert schrieb 1878 in seinem „Führer durch Reutlingen und Umgebung“, dass „fremde Maler in Menge kamen, um hier Studien zu machen, und die Rose eine viel gepriesene Künstlerherberge“ sei. Das Haus hatte zeitweise die höchsten Übernachtungszahlen im Dorf und war für sein bunt gemischtes Publikum mit wandernden Handwerksgesellen, Markthändlern, Musikern und Schaustellern bekannt. Die Künstler schätzten die Gastfreundlichkeit der Wirtsleute, der Geschwister Carl, Friederike und Juditha Pauline Fischer, und widmeten diesen ein Gästebuch, die sogenannten „Rosenblätter“. Dieses Album, das von 1871 bis 1892 geführt wurde, ist eine wichtige Quelle für die Geschichte des Künstlerortes und heute noch in Privatbesitz erhalten. Insgesamt haben sich darin 31 Künstler verewigt, einige davon trugen sich mehrfach ein, viele waren jedoch nur einmal im Dorf.
Vor Ort hielten die Künstler also Ideen und Anregungen in Skizzenbüchern fest, wie ich am Beispiel von Braun, Heck, Kaltenmoser und Kirner gezeigt habe. Teilweise entstanden bei Modellsitzungen auch detailreiche Studien in Öl- oder Aquarelltechnik. So malte der badische Landschaftsmaler Karl Weysser 1864 eine ältere verheiratete Betzingerin in ihrer Tracht.
Für die spätere Arbeit im Atelier erwarben die Künstler als Gedächtnisstützen teils auch Fotografien als Vorlagen. Denn Reutlinger wie Tübinger Fotografen verkauften seit den 1860er Jahren für den wachsenden Markt an touristischen Reiseandenken Trachtenfotografien, die oft von Hand nachkoloriert wurden. Der Münchner Künstler Paul Wilhelm Keller-Reutlingen griff 1880 beispielsweise bei seinem Aquarell mit drei Trachtenmädchen in einer Frühlingslandschaft als Vorlage auf eine Fotografie des Tübinger Fotografen Paul Sinner zurück. Vielleicht hatte Keller-Reutlingen diese Fotografie beim Reutlinger Fotografen Otto Lauer erworben. Denn in dessen Fotoatelier ließ er sich 1880 zusammen mit den Münchener Malern August Langhammer (links) und Fritz Bergen (rechts) in Betzinger Frauentracht ablichten. Das Foto schenkten die drei Künstler den Wirten der Rose für ihr Gästebuch mit der Bemerkung: „Der Rose widmen hiermit den einzigen Witz ihres Lebens zum freundlichen Andenken.“
Der Künstlerkolonie Betzingen lassen sich während ihrer fast 50jährigen Geschichte über 60 Künstler zuordnen, die vor allem aus den Kunstzentren München, Stuttgart, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin und teilweise aus dem Ausland kamen. Allerdings bildete sich in Betzingen im Gegensatz zu anderen Künstlerkolonien wie Dachau, Gutach oder Worpswede keine feste Künstlergruppe heraus, die sich jährlich traf oder sich sogar im Ort niederließ.
Das hängt in erster Linie mit der frühen Industrialisierung des Dorfes ab 1846 zusammen, mehrere Textil- und Zuliefererfabriken wie Schickhardt, Knapp & Söhne oder Marggraff boten neue Arbeitsplätze und verwandelten langsam das Bauerndorf mehr und mehr zum Industriestandort. Die Künstler kamen also in einer Umbruchzeit. Traditionelle Lebensformen und althergebrachte Kleidung waren zwar noch präsent, aber nicht mehr dominierend. So arbeiteten die unverheirateten Mädchen und Frauen, die am Sonntag ihre traditionelle Kleidung trugen, unter der Woche in praktischer Arbeitskleidung in den Spinnereien und Webereien. Die Künstler fanden demnach in Betzingen nicht die ländliche Abgeschiedenheit, die den Reiz anderer Kolonien ausmachte. Und die Tracht allein begründete trotz ihrer Attraktivität keinen längeren Aufenthalt – zumal die gute Anbindung an das Eisenbahnnetz eine schnelle An- wie Abreise ermöglichte.
Diese Lebensumstände im Umbruch zeigen die Genrebilder jedoch nicht. Im städtischen Atelier benutzten die Künstler die vor Ort gesammelten Studien als Ideensammlung. Zuerst legten sie ein bestimmtes Thema fest, wie hier Reinhold Braun den Sonntagnachmittag auf einem schwäbischen Dorf. Dann wurde nach klassischen Kompositionskriterien das Bild in Vorder-, Mittel- und Hintergrund eingeteilt und die unterschiedlichen Figuren-gruppen festgelegt. Die Künstler zeigten naturalistisch gemalte Szenen aus dem ländlichen Alltag, die es allerdings nicht genau so gegeben hatte. Von der Betzinger Jugend weiß man, dass sich diese in der Entstehungszeit des Aquarells um 1861 am Sonntag zwar auch unter der Dorflinde zu Tanz und Gespräch traf, dass sie aber viel lieber „möglichst herausgeputzt“ nach Reutlingen ging, um dort in ihrer Sonntagstracht zu flanieren. Den Künstlern ging es insbesondere um die Poesie des Bildes, das den bürgerlichen Bildbetrachter berühren sollte. Sie interpretierten die vor Ort gesammelten Beobachtungen mit künstlerischer Freiheit und passten sie der bürgerlicher Vorstellung vom heiteren Leben auf dem Lande an.
Die Künstlerkolonie Betzingen fällt in die große Zeit der Genremalerei vom Biedermeier bis zur Gründerzeit. Der Themenkanon veränderte sich in dieser Zeit kaum. Szenen aus dem Arbeitsalltag kommen nicht vor. Stattdessen bevorzugen die Künstler unbeschwerte Szenen aus dem menschlichen Lebenslauf. Im Folgenden möchte ich einige beliebte Motive vorstellen.
Der aus Württemberg stammende Künstler Jacob Grünenwald inszeniert in einem Ölgemälde um 1861 ein Liebespaar bei einem Stelldichein vor der Haustür. Dabei entspricht das Betzinger Mädchen dem Frauenideal der bürgerlichen Gesellschaft: Noch beim Flirt ist sie die fleißige Hausfrau und strickt an einem Strumpf. Den Hund setzte der Künstler ganz bewusst ins Bild, denn Hunde gelten als die klassischen ikonografischen Symbole für Treue.
Auch der Frankfurter Künstler Heinrich Winter, der 1862 auf Studienreise in Betzingen war, zeigt ein Liebespaar. Beim Spaziergang in einer Frühlingslandschaft wird das vertraut wirkende Paar ebenfalls von einem Hund als Zeichen der Treue begleitet. Die farbenfrohe Betzinger Jungmädchentracht ist ethnografisch genau erfasst und gibt dem Gemälde das beabsichtigte ländliche Flair. Beim Mann ergänzt der Künstler die für Württemberg typische traditionelle Kleidung durch einen modischen Hut mit schmaler Krempe. Mit diesem, seinem ersten bekannten Gemälde, das den Titel „Schwäbische Genreszene“ trug, stellte sich Winter 1864 auf der Frankfurter Kunst- und Industrie-Ausstellung als Künstler vor. Es sollte jedoch sein einziges Gemälde mit Betzinger Tracht bleiben. Nach einem Aufenthalt in der Kronberger Künstlerkolonie bei Frankfurt spezialisierte er sich auf Militär- und Jagdmotive.
Nach der Zeit des Werbens kommt die Hochzeit. Ein großes Betzinger Hochzeitsfest in einem festlich geschmückten Wirtshaussaal macht der Düsseldorfer Künstler Carl Johann Lasch zum Thema. Sie sehen den Nachstich seines Gemäldes, der 1873 in der Zeitschrift „Über Land und Meer“ veröffentlicht wurde. Rechts am Tisch spricht der Pfarrer einen Toast auf das junge Paar aus. Laut Archivrecherchen waren jedoch die Betzinger Pfarrer von solchen Hochzeitsfeiern in Wirtshäusern nicht angetan. Denn durch die Fabrikarbeit hatten sich die Festtraditionen verändert. Pfarrer Friedrich Sülzer beklagte 1885 in einem Pfarrbericht „die Unsitte der Samstagshochzeiten“, ganz im Gegensatz zu früher, als man unter der Woche in die Kirche ging und danach bescheiden im Elternhaus gefestet habe. Denn, so Sülzer, die „Hochzeitsgäste sollen die Nacht durchschwärmen können, ohne Gefahr zu laufen, einen Arbeitstag zu verlieren; der Sonntag soll dann gut genug dazu sein, den Übernächtigten das nöthige Ausruhen zu gestatten“. Allerdings änderte diese theologische Verurteilung nichts an den neuen Hochzeitsbräuchen im Dorf.
Wie sich die bürgerlichen Künstler den Feierabend einer ländlichen Familie vorstellten wird am Gemälde „ Schwäbische Familienszene in Betzinger Tracht“ des Malers Caspar Kaltenmoser von 1863 deutlich. Goldener Sonnenschein fällt durch Butzenscheiben in eine ländliche Stube, die der Maler sehr detailverliebt ausstattet: Kunststiche und eine Uhr zieren die Wände, auf dem Tisch ist ein Stillleben mit Blumen und Obst arrangiert, in der Fensterlaibung hängt ein Vogelkäfig. Der junge Vater in sonntäglicher Tracht mit weißem Leinenkittel und heller Lederhose schaut lachend seiner Tochter zu, die ihrer Mutter dabei hilft, Garn zu einem Knäuel aufzuwickeln. Das Bild erzählt mehr von der Sehnsucht des Bürgertums nach familiärer Häuslichkeit und Harmonie als von realen bäuerlichen Familienverhältnissen. Denn in Betzingen konnten junge Paare bis in die 1870er Jahre hinein meist erst nach der Übergabe des Erbteils in einem Haus zusammenwohnen und einen eigenen, wenngleich deutlich bescheideneren Haushalt als im Gemälde führen.
Ein häufig gemaltes Motiv waren auch Alltagsszenen aus dem Wirtshaus. Der Münchener Genremaler Theodor Schmidt lässt in seinem Gemälde „Fremder Besuch in einem schwäbischen Dorfgasthaus“ Bauern aus unterschiedlichen Regionen aufeinandertreffen. Für das städtische Publikum erhöhte dies den exotischen Reiz. Am Tisch in der rechten vorderen Bildhälfte schaut ein kleines Mädchen in Betzinger Tracht neugierig auf die dort sitzenden Frauen, die der Wirt begrüßt. Der Tracht nach stammen die Frauen vom oberen Neckar zwischen Horb und Rottweil. Für die jüngere der beiden Fremden scheint sich auch der junge Betzinger im Weißkittel zu interessieren, der links im Hintergrund vor dem Fenster sitzt. Der Künstler verbindet mit dessen Blickachse elegant die Figuren von Vorder- und -hintergrund. Wie eine sich eventuell anbahnende Romanze ausgehen könnte, das bleibt dann der Fantasie des Betrachters überlassen.
Kinder und Szenen aus dem Schulleben waren ebenfalls ein beliebtes Spezialthema. Der Düsseldorfer Carl Johann Lasch zeigt in einem Gemälde „Des alten Lehrers Geburtstag“ von 1866 das Fest zu Ehren des Lehrers. In dessen Stube sind wie auf einer Theaterbühne Gratulanten aufmarschiert. Zwei Kinder in Betzinger Tracht ziehen ganz vorne die Aufmerksamkeit auf sich: der Junge, der einen Hahn als Geschenk überreicht, und das Mädchen, das links neben dem Lehrer auf einem Betzinger Bauernstuhl sitzt. Das Gemälde spiegelt teilweise durchaus die Realität des Lehrerberufs im 19. Jahrhundert wider. Die schlecht bezahlten Lehrer waren auf materielle Zuwendungen und Zuverdienste meist als Organist und Messner angewiesen. Auch dass der Wohnraum gleichzeitig Schulzimmer sein konnte, wie dies die Tafel hinter dem Lehrer andeutet, war gängige Praxis.
Ein meist humoristisch angelegtes Thema war der naive Bauer in einer fremden, meist städtischen Umgebung. Der Düsseldorfer Benjamin Vautier malt 1875 in dem Gemälde „Nach der Schlossbesichtigung“ eine Betzinger Gruppe beim Besuch eines prunkvollen Barockschlosses. Nach der Führung durch den feudalen Herrensitz suchen die Betzinger ungeschickt das Trinkgeld zusammen, das sie dem Schlossführer im Hintergrund überreichen wollen. Für seine anekdotischen und gut nachgefragten Genrebilder hatte sich der Düsseldorfer Vautier auf süddeutsche Trachten und Gebäude spezialisiert. Sein erster großer Erfolg, das Gemälde „Sonntag Nachmittag in Schwaben“ von 1864, entstand nach Studienaufenthalten in Betzingen, bei denen er sich in das Gästebuch der Rose eintrug. Auf dem Nachstich des Gemäldes wird allerdings gut nachvollziehbar, wie locker die Künstler mit regionalen Phänomenen umgingen. Auf einem Baumstamm sitzend, wartet eine Mädchengruppe in Betzinger Sonntagstracht auf ihre Verehrer. Diese kommen aus einem Dorf im Hintergrund, das jedoch nicht Betzingen darstellt, sondern wir sehen die für den Schwarzwald typischen Walmdachhäuser. Zwei süddeutsche Markenzeichen für Tracht und Gebäude werden so zu einem idealtypischen Bild für den Sonntag auf dem Lande zusammengefügt.
Ein wichtiger Motivkreis ist auch die Frömmigkeit der Landbevölkerung. Der Düsseldorfer Louis Toussaint gibt die Situation vor einer überfüllten Dorfkirche wieder im Gemälde „Betzinger Frauen vor der Kirche“. Vor dem Kirchenportal stehen eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter und links im Halbdunkel des Türbogens eine alte Frau in schwarzer Kirchgangstracht mit Florhaube. Die drei Generationen ermöglichen dem Künstler, lebenslange Religiosität in unterschiedlicher Ausprägung zu zeigen. Das kleine Mädchen interessiert sich mehr für einen Schmetterling links am Torbogen wie für den Gottesdienst. Die Mutter betrachtet dies nachsichtig. Denn der Falter ist ein Geschöpf Gottes und die Zeit, in der sich das Kind wie die Alte in das Gesangbuch vertiefen wird, kommt früh genug. Der Künstler kann beim Thema Religion jedoch seine Herkunft aus dem katholischen Rheinland nicht verleugnen. Am rechten Bildrand platziert er eine Marienstatue und einen Opferstock, die in der protestantischen Frömmigkeitspraxis in Württemberg nicht üblich sind. Auch erinnerte sich Toussaint im Atelier offenbar nicht mehr genau an alle Trachtendetails. Die Mutter trägt statt dem traditionellen Nuster eine eng am Hals liegende Kette aus großen Granatperlen und auf ihrem Goller prangt eine in der Betzinger Tracht nicht übliche quadratische Silberbrosche.
Zum Schluss will ich Ihnen noch den Künstler vorstellen, der auch am Anfang des Vortrages mit seinem Spinnstubenbild stand: den Stuttgarter Robert Wilhelm Heck. Er kam von allen Künstlern am kontinuierlichsten nach Betzingen. Insgesamt sind achtzehn Aufenthalte durch Quellen konkret nachweisbar, wahrscheinlich waren es aber deutlich mehr. Diese enge Bindung hängt mit dem persönlichen Bezug zusammen, den der Künstler zu Reutlingen hatte. Während seiner Lehrzeit bei einem Stuttgarter Zimmermaler lernte der kunstbegabte Jugendliche den Theologen Gustav Werner kennen, der in Reutlingen das „Bruderhaus“, eine christliche Arbeits- und Gütergemeinschaft, leitete. Heck war tief religiös und so fasziniert von der Person Werners, dass er am 1. Januar 1850 als 19-Jähriger in das Bruderhaus eintrat. Dort arbeitete er als Zeichenlehrer, gab die Hauszeitung heraus und begleitete Werner auf dessen Predigtreisen. Zudem war er für die 1850 gegründete Papierfabrik des Bruderhauses als Werkführer und später sogar als Leiter zuständig – hier ein Selbstporträt aus dieser Zeit.
In einem Nachruf auf den Künstler in der Schwäbischen Chronik von 1899 wird seine Reutlinger Bruderhauszeit so beschrieben: „Bis zum Fanatismus steigerten sich seine Ansprüche: Heck konnte, um sich beim Fabrikbetriebe wach zu halten, das Eis des Mühlkanals aufschlagen und ¼ Stunde im Wasser stehen.“
Nach drei Jahren verließ Heck jedoch am 10. September 1853 das Bruderhaus aus eigenem Entschluss. Die Gründe waren vielfältig: Mit Gustav Werner häuften sich die religiösen Meinungsverschiedenheiten und auch die große emotionale Zuneigung, die Werner für seinen „Seelen-verwandten“ empfand, engten Heck zunehmend ein. Zudem kam es zu amourösen Verwicklungen, als sich Heck in die Hausgenossin Sophie Schöller verliebte, was Gustav Werner aufs Tiefste missbilligte.
Nach seiner Reutlingen Zeit begann Heck ein Kunststudium. Sein zeichnerisches Talent hatte er bereits in seiner Bruderhauszeit gepflegt. Sie sehen hier ein Skizzenbuch aus dieser Zeit mit einer Trachtenstudie aus Betzingen, auf der rechten Seite hielt er das Haus Gotteshilfe am Ledergraben fest, das Gustav Werner 1842 gekauft hatte und in dem er mit der Bruderhausgemeinde bis 1851 wohnte.
Bereits während seines Studiums gab Heck privaten Malunterricht für junge Frauen aus der bürgerlichen Oberschicht. Mit ihnen reiste er u.a. gerne nach Betzingen. Im Juli 1880 verewigte sich der damals fast fünfzigjährige Heck mit dreizehn Teilnehmerinnen eines solchen Malkurses in den „Rosenblättern“. Einige Studentinnen, die aus Reutlingen, Tübingen, Stuttgart, Esslingen und sogar aus England kamen, tragen auf den Fotografien eine Betzinger Tracht. Vermutlich hatten sie sich zuvor beim Reutlinger Fotografen Otto Lauer ablichten lassen, denn er hatte solche Trachtenkostüme im Atelier als Requisite vorrätig.
Bei seinen Studienaufenthalten arbeitete Heck teilweise über Jahre hinweg mit denselben Modellen. Als einer der wenigen Künstler notierte er die Namen seiner Modelle auf den Studienblättern. Dadurch lassen sich biografische Daten der Dargestellten recherchieren. Der Mann auf dem linken Blatt ist der damals 20-jährige Bauer Martin Kurtz, der 1863 eine Barbara Schlotterbeck heiratete. Für Barbara Leibssle auf dem rechten Blatt konnten dagegen im Archiv keine Daten erhoben werden, da der Name zu den in Betzingen sehr gängigen Familiennamen gehört.
Auf den ersten Blick wirken die Porträts wie eine spontane Momentaufnahme von zwei jungen Leuten, die sich locker auf einem Stuhl stützen. Als die Aquarelle 1856 entstanden, studierte Heck an der Stuttgarter Kunstschule. Bei diesen Blättern setzte er seine Modelle ganz bewusst nach klassischen Kompositionskriterien in Positur. Beide haben einen Fuß auf der unteren Querstrebe des Stuhles und den Arm derselben Körperseite auf die Stuhllehne gestützt. So entsteht eine dynamisch wirkende Körperhaltung mit Stand- und Spielbein, der sogenannte Kontrapost.
In den 1860er Jahren wurde Heck zu einem der erfolgreichsten Künstler im Königreich Württemberg. Die privaten Verkäufe im Inland wie auf dem expandieren Kunstmarkt in Amerika begannen zu florieren. Der Start dieser Erfolgsgeschichte war 1862 der Ankauf seines Historienbildes „Gustav Werner predigt in einer Dorfscheune“ durch König Wilhelm I. für die staatliche Kunstsammlung. Im selben Jahr entstand das Gemälde „Schwäbische Landleute in einer Stadtkirche“.
Das ungewöhnlich große Format – das Bild ist 1,61 m hoch und 1,24 m breit – und der Bogenabschluss, der an ein Altarbild denken lässt, betont die zentrale Aussage des Bildes: die Frömmigkeit der schwäbischen Landbevölkerung. Drei Frauen und ein Knabe lauschen in einer lichtdurchfluteten Kirche, für die das Ulmer Münster Vorbild war, dem Gottesdienst. Heckt rückt die Figuren in einer klassischen Dreieckskomposition nah an den Betrachter heran. In der Mittelachse steht eine junge Frau in der sonntäglichen Festtagstracht der unverheirateten Mädchen. Es ist ein Porträt der sechzehnjährigen Bauerntochter Barbara Sauer. Laut Archivrecherchen wurde sie ein Jahr später, mit siebzehn Jahren und noch ledig, die Mutter einer Tochter. Den Vater des Kindes heiratete sie erst einige Jahre später. Von ihrer farbigen Jungmädchentracht hebt sich die Kleidung der vor ihr Sitzenden ab: Die alte Frau ganz rechts mit dem Jungen im Arm trägt ihrem Alter entsprechend dunkelfarbige Trachtenteile. Die junge Frau links hat ein sogenanntes „Lappenleible“ in ebenfalls gedeckten Farben an. Für sie stand die sechzehnjährige Webertochter Anna Margarethe Dalm Modell. Diese konnte sich, wie sie später erzählte, als „armes Mädle“ mit fünf Brüdern kein „teures Häs“ leisten. Um eine möglichst repräsentative Wirkung zu erzielen, idealisierte der Künstler allerdings die Kleidung. Das Mieder des einfachen „Leibleshäs“ ist für einen Kirchgang ungewöhnlich weit ausgeschnitten und der Spitzenbesatz des Hemdes ausgesprochen üppig. Dem damaligen Schönheitsideal folgend malte Heck die Gesichter der beiden jungen Frauen völlig makellos, als perfekten Porzellanteint. Diese Idealisierung soll der Betzinger Pfarrer einer Anekdote zufolge spöttisch so kommentiert haben: „Anna Margarethe – so schö bisch net.“ Heck greift mit den unterschiedlichen Generationen auch das traditionelle Motiv der Lebensstufen auf.
Die beiden zuletzt vorgestellten Gemälde gehören zu den Höhepunkten in der Geschichte der Betzinger Künstlerkolonie. Seit den 1890er Jahren verlor Betzingen als Studienort allmählich an Bedeutung. Die Künstler wandten sich anderen Themen zu. Zudem wurde die naturalistische Wiedergabe idealer Lebenswelten durch experimentelle, subjektive wie ausdrucksstarke Malstile abgelöst. Noch vor dem Ersten Weltkrieg ging die Geschichte der Künstlerkolonie endgültig zu Ende.
Betzingen ist als Künstlerkolonie ein überaus spannendes Phänomen in der württembergischen Kunst- und Kulturgeschichte. Ausgehend von der Tracht hat sich von keinem anderen württembergischen Dorf eine so vielfältige und zeitlich so breit angelegte Bildtradition erhalten. Ich hoffe, ich konnte Ihnen nahe bringen, wie vielschichtig die Genrebilder mit Betzinger Motiven sind. Die gezeigten Werke stammen zum größten Teil aus der großartigen Sammlung des Heimatmuseums Reutlingen wie aus dem Kunstmuseum Reutlingen, aus Museen in Schwäbisch Hall, Horb, Freiburg, Karlsruhe, Kronberg, Berlin wie aus Michigan in den USA und aus Privatbesitz.
Jedes Gemälde hat dabei seine eigene Wahrheit und zeigt inszenierte Ansichten einer verschwundenen Welt, die bis heute ihren Reiz behalten hat.