Im Mittelpunkt der neuen Geschichtsblätter-Folge steht der Leidensweg der jüdischen Familie Adolf und Bea Maier, die von 1910/20 bis 1937 in Reutlingen gelebt hat. Der 230-seitige Beitrag von Dr. Wilhelm Borth zeichnet das Schicksal einer jüdischen Mitbürgerin und ihrer Familie im Zusammenhang der Zeitgeschichte nach.

Während die Mutter Bea ihre beiden Kinder Hannelore und Gerhart angesichts des fortschreitenden Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland rechtzeitig nach England in Sicherheit brachte, durchlitt sie selbst nach dem Freitod ihres Mannes sämtliche Stationen des Holocaust: Ausgrenzung, wirtschaftliche Vernichtung, Repressalien, Deportation in die südfranzösischen Internierungslager und schließlich Ermordung in Auschwitz. Anlass und Grundlage für die umfangreiche Dokumentation ist der Umstand, dass die heute hochbetagt in London lebende Tochter Hannelore Maier anlässlich eines Besuchs in ihrer Geburtsstadt Reutlingen dem Stadtarchiv rund 120 Briefe ihrer Mutter an die in England weilenden Kinder aus dem Zeitraum 1937 bis 1942 nebst einem Familienalbum übergeben hat. Wilhelm Borth hat in engem persönlichen Kontakt mit Hannelore Maier die Korrespondenz und alle anderen greifbaren Quellen ausgewertet und eine einfühlsame, zugleich aber aus der sachlichen Distanz des Historikers geschriebene Dokumentation erstellt, die nicht im Biografischen verhaftet bleibt, sondern die persönlichen Schicksale in die großen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge einbettet.

Im zweiten Beitrag des Bandes schlägt der Archivar des Hauses Württemberg Dr. Eberhard Fritz mit seiner Untersuchung über die Auseinandersetzungen um die sog. „Pfandschaft Achalm“ und die Expansionsbestrebungen der Tiroler Linie des Hauses Habsburg im Dreißigjährigen Krieg ein bislang relativ unbekanntes Kapitel in der Geschichte unserer Region auf. Der dritte Aufsatz beschäftigt sich mit der Geschichte der Reutlinger Mutschel und den mit ihr verbundenen Gebräuchen. Dabei legt Dr. Werner Ströbele in einer fundierten kulturhistorischen Studie überzeugend dar, dass die Ursprünge des Mutschel-Brauches im Umfeld des reichsstädtisch-zünftischen Verfassungslebens zu suchen sind.

Der neue Band der Reutlinger Geschichtsblätter, der von Stadtarchiv und Geschichtsverein unter der Schriftleitung von Dr. Heinz Alfred Gemeinhardt herausgegeben wurde, hat 416 Seiten und 116 Abbildungen. Er ist im Stadtarchiv und im Buchhandel zum Preis von 27 Euro erhältlich.