
Der jüngst erschienene Jahresband der Reutlinger Geschichtsblätter beinhaltet Neues zu reichsstädtischen Ärzten und Apothekern, dem Schweizer Exil von Friedrich List 1823/24, der Korrespondenz eines Reutlinger Ehepaars während des Ersten Weltkriegs sowie zu weiteren interessanten stadtgeschichtlichen Themen.
Am Beginn steht die Studie des Tübinger Arztes und medizingeschichtlichen Fachmanns Martin Widmann, der „Neues zu den Reutlinger Ärzten und Apothekern der frühen Reichsstadtzeit“ berichtet. Der Beitrag entstand im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung „Ärzte, Bader und Barbiere. Medizinische Versorgung zwischen Mittelalter und Moderne“, die am 7. November im Heimatmuseum öffnet. Eine Vielzahl neuer, zum Teil auch wiederentdeckter Quellen erlauben einen Blick auf die oft genug prekäre Existenz der Reutlinger Ärzte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Überdies werden zeitgenössische Hintergründe anschaulich geschildert, etwa Episoden der Reformation in der Stadt oder der Einbruch des Kriegsgeschehens ab 1630 in der Region.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf dem 19. Jahrhundert. Passend zum 225. Geburtstag Friedrich Lists (1789–1846) in diesem Jahr erscheint der aus einer Münchner Magisterarbeit hervorgegangene Aufsatz Kilian Spiethoffs über „Politische Verfolgung und Exil. Neue Studien zu Friedrich Lists Aufenthalt in Basel und Aarau (1823/24)“. Die gründliche Beschäftigung mit dem Thema hat sich gelohnt und erbrachte bemerkenswerte neue Erkenntnisse – angefangen von der „Entdeckung“ des tatsächlichen Wohnhauses Lists im schweizerischen Aarau bis hin zur Identifizierung eines internationalen Kreises exilierter Politiker, Wissenschaftler und Demagogen, die in den verhältnismäßig liberalen Orten der Schweiz Ideen für politische Zukunftsprojekte entwickelten. Die enge Verbindung Lists zu den Gebrüdern Follen aus Hessen, zumal zu dem Dichter August Follen, war zwar bereits bekannt, doch erbrachte die Durchsicht des Follen-Nachlasses in Winterthur und Zürich auch hier neue Erkenntnisse für die Biographie des herausragenden Nationalökonomen, Publizisten und Politikers.
Als Nebenprodukt seiner Beschäftigung mit dem Dichter Hermann Kurz wirft der Heidelberger Doktorand Matthias Slunitschek Licht auf die Bezüge Kurz‘ zum 1827 gegründeten Reutlinger Liederkranz. Slunitschek, Träger des im vorigen Jahr eingerichteten Hermann-Kurz-Stipendiums der Stadt Reutlingen, würdigt in seinem Aufsatz „Der junge Hermann Kurz und der Reutlinger Liederkranz“ die bislang verkannte Qualität der frühen, in einer Handschrift des Reutlinger Heimatmuseums überlieferten Gedichte des Maulbronner Klosterschülers.
Professor Roland Wolf schließlich unterzog sich der verdienstvollen Arbeit, die „Ortsgeschichte“ des Rommelsbacher Schultheißen Johann Martin Schäfer (1787–1870) mit einem kommentierenden Vorspann herauszugeben. Die im Stadtarchiv verwahrte Handschrift enthält die Beobachtungen des ab 1845 amtierenden Ortsvorstands und gelernten Geometers über so verschiedenartigen Dinge wie archäologische Funde, Klima-, Preis- und Ernteentwicklung, aber auch die Schilderung politischer Ereignisse wie der Revolution von 1848 – insgesamt ein wertvolles und sprechendes Zeugnis ländlichen Alltagslebens im Reutlinger Nordraum.
Aus einer Magisterarbeit am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft ging der Beitrag Antonia Jeismanns „Im Krieg gemeinsam? Die Feldpostbriefe des Ehepaars Goerlich. Eine Fallstudie zu ‚Front‘ und ‚Heimat‘ im Ersten Weltkrieg“ hervor. Die Verfasserin untersuchte den im Stadtarchiv verwahrten umfangreichen Briefwechsel der Jahre 1914–1918 von Dr. med. Max und Elisabeth Goerlich anhand eines eigens entwickelten Fragerasters mit den Methoden der historischen Anthropologie. Jeismann kommt unter Einbezug weiterer Feldpostkorrespondenzen zum Ergebnis, dass das Festhalten an den traditionellen Rollenbildern von Mann und Frau sowie gemeinsame Wertvorstellungen in diesem Fall dazu beitrugen, das oftmals heraufbeschworene „Auseinanderbrechen“ von Front und Heimat zu verhindern – trotz des in den Briefen feststellbaren Auseinanderdriftens der „Erfahrungsräume“ beider Eheleute. Es gehört sicherlich zur Tragik des Paares, dass Elisabeth Goerlich das Kriegsende im November 1918 nicht mehr erlebte.
Die Buchbesprechungen stellen am Ende des Bandes wie gewohnt eine Auswahl neuerer Titel zur Stadt-, Regional- und Landesgeschichte vor. Der neue Geschichtsblätter-Band kostet 23,00 € und ist im Stadtarchiv und im örtlichen Buchhandel erhältlich.