Der neue Band der Reutlinger Geschichtsblätter ist der einhundertste seit dem erstmaligen Erscheinen des auch über Reutlingen hinaus viel beachteten Jahrbuchs im Jahr 1890, der 53. der Neuen Folge.
Aus Anlass des 225. Geburtstags Friedrich Lists im Vorjahr steht dessen Werk im Mittelpunkt, das in vielen Teilen bis heute nichts von seiner Brisanz verloren hat. Dies gilt auch international, und genau darauf verweist der auf den ersten Blick ungewohnte Umschlag, der die von dem großen japanischen Listforscher Noboru Kobayashi (1916–2010) ins Japanische übersetzte Schrift Lists zur „Ackerverfassung“ aus dem Jahr 1842 zeigt. Dieser bislang nur selten gewürdigte Text ist ein wichtiger Bestandteil des Beitrags von Professor Tetsushi Harada, Wirtschaftswissenschaftler an der japanischen Kwansei Gakuin Universität, zur List-Rezeption in Japan. Sein Aufsatz geht auf eine international besetzte Fachtagung zur Wirkungsgeschichte Lists als wirtschaftswissenschaftlichem Denker im Oktober 2014 an der Reutlinger Hochschule zurück, eine Veranstaltung, die sich wesentlich der Initiative von Professor Dr. Dr. Eugen Wendler verdankte. Zu List enthält der Geschichtsblätterband auch den Festvortrag des bekannten Bremer Politologen und Friedensforschers Professor Dieter Senghaas, der anhand grundlegender Ideen Lists zur globalen wirtschaftlichen Ungleichheit einen „Rückblick für die Zukunft“ unternimmt. Weiter wurde die Studie des Dresdener Historikers Sven Bracke aufgenommen, der die Rolle Lists bei der Planung der ersten in wirtschaftlichen Maßstäben „funktionierenden“ Eisenbahnverbindung in Deutschland von Leipzig nach Dresden beschreibt.
Am Anfang des Bandes findet sich aber der Ertrag des umfangreichsten Vorhabens des Geschichtsvereins im Vorjahr. Mit finanzieller Unterstützung des Biosphärengebiets Schwäbische Alb erfolgte eine Bestandsaufnahme und gründliche Untersuchung der Achalm in topographischer, baukundlicher und archäologischer Hinsicht. Die Erkenntnisse stellt der Tübinger Archäologe Dr. Christoph Morrissey nun vor. Eine vom städtischen Amt für Stadtentwicklung und Vermessung erstellte Kartenbeilage zeigt nicht nur die heute noch erkennbaren baulichen Reste der Burg, sondern auch weitere Spuren menschlicher Geschichte auf dem Reutlinger Hausberg.
Weitere Themen reichsstädtischer Geschichte bieten die Beiträge von Stadtarchivar Dr. Roland Deigendesch und des Stuttgarter Papierexperten Dr. Erwin Frauenknecht. Deigendesch erläutert Entstehung und Bedeutung des Reutlinger Wappens, das bis heute wegen seiner heraldischen Besonderheiten immer wieder Anlass zu verschiedensten Vermutungen gibt. Dass Reutlingen schon in alter Zeit ein Zentrum der Papier- und Buchproduktion war, ist bekannt. Dr. Erwin Frauenknecht, Mitarbeiter des Landesarchivs Baden-Württemberg und dort verantwortlich für den Aufbau eines auch im Internet zugänglichen Wasserzeicheninformationssystems, führt nun exemplarisch am Reutlinger Beispiel die Erkenntnismöglichkeiten dieses noch jungen Forschungsinstrumentes für die Geschichte einer örtlichen Papierproduktion vor.
Dem 150. Gründungsjubiläum der evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen ist der umfangreichste Beitrag gewidmet. Seminarschuldirektor Edgar Reinert bietet einen aus den Quellen erarbeiteten profunden Blick in die örtliche Geschichte dieser Freikirche, die nicht zuletzt durch die Etablierung des Predigerseminars in der Stadt 1877, Vorläufer der heutigen Theologischen Hochschule, bald auch eine überregionale Bedeutung erhielt.
Reutlingen ist bereits früh durch eine viel beachtete, ausgesprochen gründliche Beschäftigung mit seiner NS-Vergangenheit hervorgetreten. Nach wie vor wird der 1995 erschienene Katalog „Reutlingen 1930–1950“ herangezogen. Dass diese Arbeit auch in heutiger Zeit weiterzutragen ist, zeigen aktuelle Diskussionen um eine angemessene Gedenkkultur in der Stadt. Neu erschlossene Archivbestände und inzwischen abgelaufene Sperrfristen von Unterlagen hauptsächlich der staatlichen Archive ermöglichten nun eine exemplarische biographische Studie über den SA-Führer Karl Schumacher (1889–1974). Silke Knappenberger-Jans zeichnet vorwiegend anhand der Überlieferung im Stadtarchiv sowie von Spruchkammer- und Strafprozessakten in den Staatsarchiven des Landes Schumachers Werdegang als Mann der ersten Stunde beim Aufbau der örtlichen SA nach.
Ein umfangreicher Rezensionsteil stellt eine Reihe neuerer Titel zur Stadt-, Regional- und Landesgeschichte vor und rundet den Jubiläumsband ab. Der Jahresband der Reutlinger Geschichtsblätter 2014 hat 384 Seiten und zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Er ist beim Stadtarchiv und im örtlichen Buchhandel zum Preis von 23,00 Euro erhältlich.