Fünf historische Fachbeiträge präsentieren neue Erkenntnisse zu unterschiedlichsten Aspekten der Stadtgeschichte, ergänzt um zahlreiche Buchbesprechungen.

Der neue Jahresband der vom Reutlinger Geschichtsverein und dem Stadtarchiv gemeinsam herausgegebenen Geschichtsblätter zeigt auf dem Umschlag die einstige Villa des Reutlinger Unternehmers Emil Gminder. Der heute verschwundene, 1906 entstandene Bau geht auf den damals in Stuttgart wirkenden Architekten Theodor Fischer (1862–1938) zurück, laut Wikipedia der einflussreichste und bedeutendste Architekt vor dem Ersten Weltkrieg. In Betzingen schuf Fischer zeitgleich auch die Arbeitersiedlung Gmindersdorf. Die Stuttgarter Architekturhistorikerin Dr. Kerstin Renz geht in ihrem Beitrag „Der Fabrikant als Mäzen – Das Beispiel der Textildynastie Gminder in Reutlingen“ dem Zusammenspiel von ingenieurtechnischer Invention, Städtebau und kulturgeschichtlichem Zeithorizont nach und stellt insbesondere die mäzenatische Beziehung des Fabrikanten Emil Gminder (1873–1963) zu Theodor Fischer in den Mittelpunkt. Der beispielgebende Bau Fischers in der Gustav-Werner-Straße geriet nach Renz zu einem „Lehrstück der Reformbewegung in Architektur und Kunstgewerbe und ist in seiner Bedeutung nicht geringer einzuschätzen als die Pfullinger Hallen des Mäzens Louis Laiblin.“

Der umfangreichste Beitrag des 54. Geschichtsblätterbandes heißt „Opferstein und Ofenschelter – Reutlinger Flurnamen und ihre Geschichte“ und stammt aus der Feder von Wolfgang Wille aus Mössingen. Wille befasst sich mit den Flurnamen auf Alt-Reutlinger Gemarkung und kommt durch eine akribische und umfassende Auswertung älterer Quellenbelege im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv und im Reutlinger Stadtarchiv zu manch neuen, zum Teil überraschenden Erkenntnissen. Für bis heute rätselhafte Flurnamen wie den „Opferstein“ zwischen der mittelalterlichen Stadt und Betzingen oder „Rappertshofen“ am nördlichen Rand der alten Reutlinger Gemarkung hält der Autor gut begründete Herleitungen bereit. Auch die Bedeutung des Weinbaus wird in der Vielzahl der Flurbezeichnungen an Achalm und Georgenberg deutlich. Siedlungsgeschichtlich von Interesse sind die Hinweise auf abgegangene Orte, sogenannte Wüstungen, sowie Änderungen von Markungsgrenzen, etwa gegenüber Pfullingen, dem einstigen Hauptort des Echaztals. Auch hier gelangt der Autor zu neuen Interpretationsansätzen.

Während in Reutlingen die Zeit der Weingärtner und Ackerbürger schon lange vorbei ist, hat die Bezirksgemeinde Reicheneck im Nordraum bis heute ein von der Landwirtschaft geprägtes Erscheinungsbild. Passend zum 700. Jahrestag der Ersterwähnung Reichenecks in einer Urkunde vom 24. Dezember 1316 beleuchtet Gerald Kronberger anhand von einschlägigen Beispielen Gehalt und Ertrag des Archivbestands dieser Gemeinde. Dabei kommt die Rolle der Pfullinger Klostergrundherrschaft in dem kleinen Weiler, der wegen mancher Besonderheit als „kleines Reichsstädtlin“ galt, zum Tragen, ebenso die entscheidenden Neuerungen des 19. Jahrhunderts. Zur Sprache kommt natürlich ebenso die Episode um die legendäre Ohrfeige Herzog Ulrichs von Württemberg, die sogar den Stoff zu einer dramatischen Aufführung abgab.

Ein Schwerpunkt des Bandes gilt dem 19. Jahrhundert. Neben dem erwähnten Aufsatz von Kerstin Renz befasst sich Walter Göggelmann mit dieser Zeit und greift mit der Frage „Führen die Frauenzimmer die Herrschaft?“ ein Kapitel aus der bewegten Geschichte des „Bruderhauses“ Gustav Werners in Württemberg auf. Es ist ein Verdienst Göggelmanns, der sich in einer Reihe von einschlägigen Arbeiten mit diesem Thema beschäftigt hat, die Rolle der Frauen um den charismatischen Theologen und Sozialreformer herausgearbeitet zu haben. Durch die Einbeziehung neuer Quellen aus dem Stadtarchiv gelingt es Göggelmann, diesem Aspekt auch eine materielle Grundierung hinzuzufügen.

Gustav Werner suchte mit seinem Werk eine Antwort auf die Soziale Frage im Industriezeitalter. Marisse Hartmut, Leiterin des Reutlinger Industriemagazins, befasst sich für diese Epoche mit Reutlinger Erfindern und ihren Patenten. Der auf einen Vortrag im Geschichtsverein zurückgehende Aufsatz stützt sich auf die Überlieferung der württembergischen Patentkommission bei der einstigen Zentralstelle für Gewerbe und Handel, heute im Staatsarchiv Ludwigsburg. Dieser bislang für Reutlingen nicht ausgewertete Archivbestand umfasst die Patentakten bis zum Übergang der Zuständigkeit für den Erfinderschutz auf das Deutsche Reich im Jahr 1877. Durch die den Patentanträgen beigegebenen Zeichnungen werden Themen und Erfindungsreichtum Reutlinger Industrieller und Handwerker anschaulich. Überdies geht die Autorin auf den Patent- und Erfinderschutz in Deutschland ein, fraglos ein bis heute aktuelles Thema.

Wie gewohnt runden Besprechungen zu Neuerscheinungen orts-, regional- und landesgeschichtlicher Literatur den Jahresband ab. Der neue Geschichtsblätter-Band hat 312 Seiten sowie zahlreiche, teils farbige Abbildungen und bietet außerdem eine Kartenbeilage (Plan der Markung Reutlingen 1901) zum Beitrag über die Reutlinger Flurnamen. Das Buch kostet 23,00 € und ist im Stadtarchiv und im örtlichen Buchhandel erhältlich.