Im Mittelpunkt dieses Jahrgangbandes der Reutlinger Geschichtsblätter steht aus naheliegenden Gründen das Reformationsjubiläum 2017.
Bekanntlich zählte Reutlingen zu den ersten Reichsstädten im deutschen Südwesten, die sich dem neuen Glauben zugewandt haben. Die damalige prekäre Gemengelage aus politischen Verwerfungen nach der Vertreibung Herzog Ulrichs von Württemberg aus seinem Land, sozialen Konflikten mit dem Aufstand des „gemeinen Mannes“ und schließlich das Ringen um den rechten Glauben erforderte von den politischen und kirchlichen Obrigkeiten ein hohes Maß an Umsicht und Mut. Vielfach wurde Reutlingens besondere Rolle als „kleines Licht“ – so der Reutlinger Reformationshistoriker Johann Georg Beger – hervorgehoben, das sich in entscheidender Stunde als einzige Reichsstadt dem ungleich mächtigeren Nürnberg angeschlossen und 1530 die Confessio Augustana unterzeichnet hat. Dies kommt etwa in der zwar schlecht verbürgten, aber immerhin denkbaren Frage des erstaunten Luther an den landeskundigen Philipp Melanchthon zum Ausdruck: „Was ist das für eine Stadt?“, ebenso in einem handfesten, in Wien verwahrten Quellenzeugnis: Markgraf Philipp von Baden äußerte sich als Statthalter des Reichsregiments in einem Brief an Erzherzog Ferdinand vom 10. März 1525 höchst besorgt über die Fortschritte der „lutherischen Sache“ im Reich und führte dafür drei Städte als Beispiele an: Magdeburg, Straßburg und eben Reutlingen. Dass Reutlingen hier in einer Liga mit den Großen im Reich spielte, hatte sicherlich auch mit dem denkwürdigen Verhçr seines Predigers Matthäus Alber vor dem Reichsregiment in Esslingen wenige Wochen zuvor zu tun.
Aber wie dem auch sei, die bemerkenswerte und bis heute prägende Reformationsgeschichte der Stadt war für den Geschichtsverein und das Stadtarchiv Anlass genug für die Ausrichtung einer Tagung zum Thema „Reformation in den südwestdeutschen Reichsstädten – Voraussetzungen und Wirkung“. Sie fand am 13. Oktober 2017 im Rathaus statt und stieß auf ein erfreulich breites Interesse. Es erwies sich als Glücksfall, dass von Beginn der ersten Planungen an Professor Dr. Sabine Holtz, ausgewiesene Kennerin der Reformationsgeschichte, und mit ihr die Abteilung Landesgeschichte des Historischen Seminars der Universität Stuttgart als Kooperationspartner im Boot waren. So konnte ein attraktives, auf Reutlingen bezogenes Tagungsprogramm erarbeitet werden, bei dem junge Forscherinnen und Forscher ebenso Erträge beisteuerten wie „altgediente“ und mit den lokalen Vorgängen vertraute Experten. Als hilfreich erwiesen sich darüber hinaus die rechtzeitig online vorliegenden „Reutlinger Reformationsakten“, mit denen die einschlägige Quellenüberlieferung des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs und des Stadtarchivs bequem zugänglich ist.
Ein Tagungsband enthält selten oder nie eine vollständige oder erschöpfende Darstellung eines Themas. Vielmehr gibt er den Leserinnen und Lesern Einblick in aktuelle Fragen der Forschung und in eine zeitgemäße Bewertung der für uns heute so fernen Reformationsepoche. Besonderen Wert wurde bei der Planung auf die Einbettung jener entscheidenden Jahre zwischen Luthers Thesenanschlag 1517 und dem Augsburger Religionsfrieden 1555 gelegt. Die prägende Rolle von Gesellschaft und Kirche am Ende des Mittelalters kommt ebenso zur Geltung wie die Bedeutung der Reformation für das reichsstädtische Selbstverständnis bis ans Ende des Alten Reichs. Es ist ein weiterer Glücksfall, dass zusätzlich zu diesem Themenband der Geschichtsblätter mit dem Ausstellungskatalog des Heimatmuseums „Der ‚Luther Schwabens‘: Matthäus Alber“ ein Kompendium vorliegt, das Personen und Ereignisse der Reutlinger Reformationsgeschichte knapp und treffend nach heutigem Kenntnisstand wiedergibt. Mit diesem reformationsgeschichtlichen „Doppelpack“ ist sicherlich nicht das letzte Wort gesprochen. Aber wichtige neue Aspekte der Reutlinger Reformationsgeschichte konnten damit aufgegriffen werden.
Die eigentlichen Tagungsbeiträge von Irmtraud Betz-Wischnath, Uta Dehnert, Roland Deigendesch, Sabine Holtz, Melanie Prange und Tjark Wegner werden ergänzt durch die Schriftfassung des Schiedweckenvortrags des Jahres 2017 von Wilhelm Borth über „Die Reformationszeit als identitätsstiftender Höhepunkt der Reutlinger Stadtgeschichte“, der bis ins Jahr 1817 ausgreift, sowie dem Ertrag einer „Abendstunde“ des Heimatmuseums zu dessen neu erworbenem „Musikbecher“ des Pfarrers Christoph Ensslin. Der Besitzgang dieses Prunkbechers ist tief mit der jüngeren deutschen Geschichte verwoben. Martina Schröder schildert kenntnisreich die Vorgeschichte des Erwerbs, beschreibt den Pokal kunsthistorisch und sorgt für seine stadtgeschichtliche Einordnung. Außerhalb des Themenschwerpunkts enthält der Band die lange schon geplante neunte und letzte Folge der „Neue(n) Funde zu Friedrich List“ von Volker Schäfer, eine für die Listforschung überaus wichtige Serie, die in dieser Zeitschrift 1989 ihren Anfang nahm.
Ein umfangreicher, wiederum in Teilen die Reformationszeit berührender Besprechungsteil zu neueren orts-, regional- und landesgeschichtlichen Veröffentlichungen beschließt diesen Geschichtsblätterjahrgang.