Der Themenband widmet sich den Reutlinger Besonderheiten der Jahre zwischen Kaiserreich und Republik
Vielfach ist in den vergangenen Monaten der demokratische Aufbruch, aber auch die Gefährdung der Demokratie durch politische Extreme vor einhundert Jahren gewürdigt worden. Einhundert Jahre Frauenwahlrecht, soziale Innovationen und eine fortschrittliche Reichsverfassung stehen der blutigen Niederschlagung von Protestbewegungen und politisch motivierten Mordtaten gegenüber. Den Reutlinger Besonderheiten der Jahre zwischen Kaiserreich und Republik widmet sich der jetzt erschienene Themenband der vom Stadtarchiv und dem Reutlinger Geschichtsverein herausgegebenen Geschichtsblätter. 2017 hatte sich eine Gruppe von Tübinger Studenten unter der Anleitung Professor Ewald Fries auf demokratiegeschichtliche Spurensuche in Reutlingen begeben. Für diesen Band wurden daraus Erträge zu den ersten Wahlen, zu Ausformungen eines neuen demokratischen Bewusstseins, aber auch zu Konfliktpotenzialen in den Milieus von Arbeitern und Kirche zusammengetragen, ergänzt durch den Essay Ewald Fries über die Stadt als „Institution, Arena, Verdichtungsraum, Baustelle“ in Weimarer Zeit.
Reutlingen erlebte die Novemberrevolution scheinbar „ohne eigentliche Störung der öffentlichen Ordnung“, wie Lukas Kuhn seinen Blick auf diese Tage in der Stadt betitelt. Und doch ist gerade in Reutlingen sehr gut zu beobachten, wie sich die Verantwortlichen und die Stadtgesellschaft insgesamt auf die neuen demokratischen Spielregeln einließen und – bei allen widerstreitenden Interessen und trotz vielfältiger akuter Notlagen – die Chancen der ersten wirklichen Demokratie auf deutschem Boden auf vielen Feldern ergriffen. Über die studentischen Beiträge hinaus werden Einzelaspekte der Weimarer Jahre aufgegriffen. Bernhard Madel geht der Entwicklung der heute schmerzlich vermissten Reutlinger Straßenbahn beispielhaft für eine privatwirtschaftlich-kommunale Infrastruktur nach, Stadtarchivar Roland Deigendesch fragt nach dem „Krisenmanagement der jungen Demokratie am Beispiel von Wohnungspolitik und kommunalem Bauen 1919–1929“. Im Berliner Bundesarchiv ist Silke Knappenberger-Jans auf umfangreiche Akten eines Hochverratsprozesses gegen Reutlinger Kommunisten im Jahr 1925 gestoßen. Sie lassen wie unter dem Brennglas einen Blick auf die sozialen Verhältnisse in Reutlinger und Betzinger Arbeiterfamilien zu und zeichnen mitunter fast atemberaubende Lebenswege nach.
Schließlich werfen Lebensbilder über den liberalen Politiker und Reutlinger Ehrenbürger Friedrich Payer (Christopher Dowe) und Adolf Kommerell, Reutlingens erstem Landrat in dieser „neu angebrochenen Zeit“ (Kreisarchivar Marco Birn), ein Licht auf Haltungen und Handlungsspielräume von verantwortlichen Persönlichkeiten jener Zeit. Zu dem Themenschwerpunkt Weimar fügt sich der Abschluss der im Vorjahresband begonnenen Studie Wilhelm Borths über das Reformationsgedenken in Reutlingen bis ins Jahr 1924, dem Gedenkjahr des Reutlinger Markteids. Dieses Ereignis wurde vor der Kulisse dieser „neuen Zeit“ aufgegriffen und erscheint als eindrucksvolles Zeugnis Reutlinger Selbstbewusstseins. Außerhalb des Themas kommt der Geschichtsvereinsvortrag von Reinhard Hirth zum Abdruck, der sich anhand seiner Heimatkirche in Bissingen mit dem wenig bekannten Reutlinger Barockmaler Johann Christoph Hermann befasst hat. Wie immer schließt ein Blick auf neu erschienene regional- und landesgeschichtliche Literatur den Band ab.
Reutlinger Geschichtsblätter NF 57 (2018), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein (Redaktion: Roland Deigendesch). 480 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISSN 0486-5901.