Die Erträge der Urkundenforschung sind eines der großen Themen im 59. Band der Reutlinger Geschichtsblätter

Dabei begibt sich Professor Wilfried Schöntag auf die Spuren von Urkundenfälschern im Mönchsgewand, die es verstanden, wirkliche oder vermeintliche Rechte des Stifts Marchtal im mittelalterlichen Reutlingen mit allen Mitteln zu verteidigen. Wie es damals, im 13. Jahrhundert, und danach in der Stadt aussah, zeigt der Aufsatz der Tübinger Archäologin Sybil Harding über die Stadtkerngrabung auf dem Katharinenhof-Areal. Die 2018 bis 2019 erfolgten Ausgrabungen förderten Siedlungsspuren bis weit vor der Stadtgründung zutage, aber auch die Brandkatastrophe des Jahres 1726 lässt sich an den Bodenfunden nachvollziehen.

Eine Neuentdeckung präsentieren Maria Magdalena Rückert und Ulrich Müller mit zwei Klosterurkunden aus Reutlingen, die auf die Geschichte der sogenannten Hollensammlung unmittelbar bei der Marienkirche aufmerksam machen. In dieser Nachbarschaft befand sich auch noch in evangelischer Zeit der Klosterhof der Benediktinerabtei Zwiefalten. Die frühere Kreisarchivarin Irmtraud Betz-Wischnath konnte durch genaues Quellenstudium die Lage und die Ausstattung der dortigen Kapelle fassen. Die reichhaltige Bemalung etwa schuf der Reutlinger Maler Jakob Salb.

Weitere Mittelalterthemen liefern der Aalener Kreisarchivar Uwe Grupp, der sich mit der spannungsreichen Beziehung der Ritter im Reutlinger Raum und der hier begüterten Abtei Zwiefalten beschäftigt. Dr. Bernhard Kreutz beleuchtet die engen Beziehungen der führenden Familien in den beiden Reichsstädten Esslingen und Reutlingen am Ende des Mittelalters.

Der zweite Teil des gemeinsam von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein herausgegebenen Bandes ist dem Jahrestag des Kriegsendes 1945 vor 75 Jahren gewidmet. Der langjährige Leiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg, Professor Thomas Schnabel, bietet einen profunden und hervorragend lesbaren Einstieg in dieses Thema, das aktuell auch durch eine Sonderausstellung im Heimatmuseum beleuchtet wird.

Der aus Reutlingen stammende, jetzt Berliner Journalist und Historiker Lukas Weyell sowie der Museumsmitarbeiter Dr. Boris Niclas-Tölle steuern mit zum Teil neuen Quellen Einzelaspekte zur Reutlinger Geschichte dieser Umbruchzeit bei. Weyell gibt anhand der Akten im Archiv des französischen Verteidigungsministeriums in Vincennes die französische Sicht auf die Besetzung Reutlingens in den Apriltagen 1945 wieder. Niclas-Tölle liefert ein Lebensbild des Kommunisten Fritz Wandel und ediert dabei Briefe aus dem Gefängnis, die nach allem, was man weiß, die Empfänger aufgrund der Zensur niemals erreichten. Sie geben einen bedrückenden Einblick in die Verfolgung von Regimegegnern während der frühen Zeit des Nationalsozialismus.

Den Abschluss bildet ein Beitrag der Leiterin des „Industriemagazins“, Marisse Hartmut, über die Hülsenfabrik Emil Adolff. Dort, wo derzeit ein neues Einkaufszentrum geplant wird, stellte das Unternehmen einst Innovationskraft im Zuge der Rationalisierungsbestrebungen zwischen den Weltkriegen unter Beweis. Der Band ist im Buchhandel und bei der Geschäftsstelle des Reutlinger Geschichtsvereins erhältlich.

Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 59 (2020), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein (Redaktion: Roland Deigendesch). 299 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISSN 0486-5901.