Der 60. Band der 1959 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg als „Neue Folge“ wieder erschienenen Reutlinger Geschichtsblätter knüpft an den damaligen Neustart an, steht aber auch für den Wandel der Reihe: Auswanderung und Urkundenforschung waren damals Themen; Hermann Kalchreuter gab Einblicke in die städtische Urkundenüberlieferung und Gustav Haffner griff die Geschichte des von Reutlingern besiedelten Kaukasusdorfs Helenendorf auf.

Diesmal präsentiert Bernhard Kreutz mit der „Landwirtschaft in den Reutlinger Rechtsquellen des Spätmittelalters“ einen Ertrag eben aus der Beschäftigung mit den Reutlinger Urkunden. Das Thema entspricht einem in den letzten Jahren wieder neu erwachten Interesse der Forschung und zeigt obendrein, welche Erkenntnismöglichkeiten der inzwischen intensiver erschlossene Reutlinger Urkundenbestand noch bietet. Kaum ein Reutlinger in reichsstädtischer Zeit kam ohne eigene Landwirtschaft aus, das städtische Spital gehörte in der Region als Grundherr zu den großen Playern. Illustriert wird der Aufsatz durch eine heute in Wien verwahrte Handschriftenminiatur des 15. Jahrhunderts, die eine Getreideernte so zeigt, wie sie im Mittelalter vonstattenging. Die Besonderheit: Die Handschrift stammt aus der Nachbarschaft, vom Grafenhof Eberhards im Bart. Der unbekannte, „Maler von Urach“ genannte Künstler hatte dabei also die Bäuerinnen und Bauern im Ermstal vor Augen.

Auswanderung und Auswanderergeschichten sind Gegenstand der umfangreichen Studie von Gertrud Lütgemeier aus Essen, die im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen auf einen bislang völlig unbekannten Schatz an Briefen der Familie Reichenecker aus Rommelsbach gestoßen ist. Die Briefe führen ins europäische Ausland und nach Amerika, sie vermitteln ein farbiges, manchmal abenteuerliches und in jedem Fall sprechendes Bild einer bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert. Dabei geht es keineswegs nur um Privates. Die Sicht der ausgewanderten Rommelsbacher auf die amerikanischen Ureinwohner wird ebenso gestreift wie die deutsch-französische Feindschaft im Krieg 1870/71, die der ins Elsass ausgewanderte Familienzweig ganz unmittelbar erlebte.

Während die Geschichtsblätter 1959 auf gerade mal 96 Seiten noch Raum auch für kleinere Fundberichte aus dem Stadtraum boten, finden inzwischen Erträge der Forschung etwa in Form universitärer Abschlussarbeiten Platz. Gleich zwei sind hier zu nennen: Isabelle Zeder befasst sich in einer in Basel entstandenen Masterarbeit mit Kinderhexenprozessen im frühneuzeitlichen Reutlingen und Moritz Gessert aus Reutlingen legt den erstaunlichen Fall einer fast verhinderten Ehe zwischen einer Scharfrichtertochter und einem Gerbersohn vor. In seiner Tübinger Bachelorarbeit, die nun in Auszügen veröffentlicht wird, verfolgt er die gewundenen Argumente der Gerberzunft, die der Meinung waren, dass sie sich nirgendwo mehr blicken lassen konnten, wenn einer von ihnen mit der Tochter aus einer „unehrlichen“ Familie verbunden war. Als unehrlich galt der Brautvater, Scharfrichter Widmann, der sich aber zu wehren wusste und deswegen vor dem kaiserlichen Reichshofrat in Wien prozessierte. Anhand der damaligen Akten erhalten die Leser Einblicke in weit zurückreichende Ehrvorstellungen, die nun, wenige Jahrzehnte vor der Französischen Revolution, auch in Reutlingen im Umbruch begriffen waren.

Aus Geschichtsvereinsvorträgen sind die Beiträge von Gerald Kronberger über die Serie der „Befehlsbücher“ im hiesigen Stadtarchiv sowie von Roland Wolf über die Hungerkrise nach dem Krieg in der Stadt und im Kreis Reutlingen entstanden. Während die Arbeit Kronbergers Einblicke in das rigide staatliche Regiment nach der Reichsstadtzeit gibt, ist die Studie Wolfs Teil einer groß angelegten Arbeit über eine Zeit der Not, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Den Einstand aber steuert der frühere Kulturamts- und Museumsleiter Werner Ströbele mit einem Überblick zur Geschichte der Reutlinger Schwörtage von den Anfängen bis zur „Wiederbelegung“ 2005 bei. Dabei werden die frühesten Quellenbelege der Schwörtagstradition und etliche Texte zu diesem Ritual erstmals umfassend dokumentiert, der Ablauf wird anhand zeitgenössischer Schilderungen anschaulich. Überdies wird gefragt, was es mit dem besonderen demokratischen Einschlag der Reutlinger für eine Bewandtnis hat. Der Beitrag unterstützt so nicht zuletzt die gemeinsam mit den Städten Esslingen und Ulm unternommenen Bemühungen Reutlingens um eine auch internationale Anerkennung dieses auch demokratiegeschichtlich beachtlichen immateriellen Kulturerbes.

Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 60 (2021), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein (Redaktion: Roland Deigendesch). 327 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISSN 0486-5901.