
Lokalgeschichte in ihrer ganzen Vielfalt enthält der neue Jahrgang der Reutlinger Geschichtsblätter. Die Einzelbeiträge reichen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, berühren Fragen der Kulturgeschichte ebenso wie der Technik- und Industriegeschichte.
Auch wenn es sich stets um Reutlingen und die Region dreht, zeigen die Aufsätze doch immer wieder, wie sehr die eigene Vergangenheit mit der allgemeinen deutschen, ja europäischen Geschichte verwoben ist. Hans-Dieter Lehmann aus Bisingen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Einzelfragen mittelalterlicher Geschichte auf der Zollernalb und im Albvorland. Mit der Herkunftsfrage der edelfreien Herren von Stöffeln und Hug(g)enberg als Erben Graf Kunos von Achalm-Wülflingen greift er in den Geschichtsblättern eine altes Thema mediävistischer Forschung auf. Und schon hier werden die Leser weit über das Wiesaztal und den Reutlinger Raum hinaus bis in die Nordschweiz und an den Hof des Salierkaisers Heinrich IV geführt. Aus einem Tübinger Dissertationsprojekt über die Täufer in ausgewählten Reichsstädten ist die Arbeit von Beate Hummel aus Reutlingen erwachsen. Sie gibt einen kompakten Einblick in dieses spannende Kapitel der Reformationsgeschichte und setzt die besondere Reutlinger Entwicklung in Beziehung zu ihren Reichsstadtschwestern in Schwaben.
Von der Reformation in die Zeit des Barock führt der nächste Aufsatz von Gerd Brinkhus aus Mainz. Der Bürgermeister, Bibliotheksstifter und mathematisch-naturwissenschaftliche Autor Matthäus Beger (1588–1661) ist bereits mehrfach gewürdigt worden, nicht umsonst ist auch eine Straße nach ihm benannt. Gerd Brinkhus, vormaliger Leiter der Abteilung Alte Drucke und Handschriften der Universitätsbibliothek Tübingen, hat sich bei Erschließungsarbeiten in der Historischen Stadtbibliothek der Beger’schen Büchersammlung und seiner Handschriftenproduktion gewidmet. Als „Trium bibliothecarum restaurator author et fundator“ (Erneuerer, Verfasser und Gründer dreier Bibliotheken) schuf Beger einen bis heute fast vollständig erhaltenen bibliothekarischen Schatz barocker Geistesgeschichte, insbesondere zu Naturwissenschaften und Mathematik. In einem Anhang werden erstmals die von Beger selbst verfassten Werke systematisch zusammengestellt. Auch dieses Thema kommt natürlich nicht ohne Bezüge nach außen aus, die Reichsstädte Straßburg und Ulm sowie die nahe Universitätsstadt Tübingen spielen eine nicht unwichtige Rolle.
Zwei Beiträge befassen sich mit dem 19. Jahrhundert. Rainer S. Elkar, Münchner Emeritus und ausgewiesener Fachmann in der Geschichte des Handwerks und der Gesellenwanderungen, widmete sich anhand der Quellenüberlieferung im Stadtarchiv exemplarisch dem „Leben und Leiden eines Reutlinger Goldschmieds in der Heimat und in der Fremde“. Der mit einem ausführlichen Quellenanhang versehene Aufsatz über den Goldschmiedegesellen Otto Baur führt in das damalige Königreich Ungarn und vermittelt durch die im Anhang abgedruckten Briefe an die Verwandten in Reutlingen ein farbiges Bild täglicher Sorgen und Nöte, aber auch außergewöhnlicher Vorgänge wie der Revolution 1848/49 in Ungarn.
In die Zeit der Hochindustrialisierung führt der Beitrag des früheren Museums- und Kulturamtsleiters Werner Ströbele über die Dampfmaschinenproduktion der Reutlinger Firma Kohllöffel. Ströbele sieht das Ende des 19. Jahrhunderts beim Bahnhof erbaute Unternehmen als „Reutlinger Motor der Industrialisierung“ und gibt anhand eines unscheinbaren „Monteursbüchleins“ interessante Einblicke in Produktion und Verbreitung der Dampfmaschinen „made in Reutlingen“. Mit dem Lebensweg des in Reutlingen geborenen Münsinger Landrats und Krakauer Vizegouverneurs Georg Eisenlohr (1887–1951) stellen Kreisarchivar Marco Birn und Stadtarchivar Roland Deigendesch die Karriere eines württembergischen Verwaltungsmannes in Weimarer und NS-Zeit vor, die von Reutlingen über Münsingen in das besetzte Polen führt. Die deutschen wie die polnischen Akten zeigen bedrückende Verstrickungen Eisenlohrs in das brutale Besatzungsregime im Generalgouvernement, ebenso aber auch eine Persönlichkeit, die um Distanz zu den übelsten Scharfmachern unter den Nationalsozialisten bemüht ist.
Mathias Beer, Leiter des Instituts für Donauschwäbische Geschichte in Tübingen, stellt schließlich anhand des 1914 erstmals erschienenen und dann immer wieder neu aufgelegten Reutlinger Heimatbuchs des Gartentorschulrektors Karl Rommel eine einst weitverbreitete Buchform vor, die als literarisches wie als historiographisches Genre Grenzgänger zwischen den Gattungen ist. In Reutlingen, auch das eine Besonderheit, erschien wenige Jahre nach dem Krieg nicht nur eine Neuauflage Rommels, sondern bald darauf auch ein weiteres Heimatbuch, verfasst von Arno Mulot und Karl Bahnmüller. Beer sieht das Heimatbuch mentalitäts- und kulturgeschichtlich als eine „unterschätzte Form der Geschichtsschreibung“ und ordnet das Reutlinger in das Gesamtbild ein. Wie üblich beschließen die Besprechungen neu erschienener Bücher zur Landes-, Regional- und Ortsgeschichte den Band, der ab sofort im Buchhandel im Stadtarchiv erhältlich ist.
Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 61 (2022), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein (Redaktion: Roland Deigendesch). 291 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISSN 0486-5901.