Die Beiträge der neuen, 62. Folge der Reutlinger Geschichtsblätter reichen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und enthalten eine große Vielfalt geschichtlicher Themen zu Stadt und Region.
Den Auftakt macht eine profunde Untersuchung von Michael Braunger über die Fragmente mittelalterlicher Musikhandschriften im Stadtarchiv. Der Tübinger Musikwissenschaftler konnte 39 solcher kostbaren Stücke vom 12. bis zum 15. Jahrhundert namhaft machen und sie in den ursprünglichen liturgischen Gebrauch einordnen. Dabei wird einmal mehr die Rolle des Franziskanerklosters, heute Friedrich-List-Gymnasium, als Stätte der Bildung und Buchkultur im mittelalterlichen Reutlingen erkennbar. Einer anderen Episode reichsstädtischer Geschichte widmet sich Stadtarchivar Roland Deigendesch. Der „Kampf um politische und wirtschaftliche Selbstbehauptung am Ende des Alten Reichs“ ist sein Thema, das zu frühen, bislang unbekannten Verbindungen Reutlinger Kaufleute nach Aarau in der Schweiz führt.
Der Schwerpunkt des Bandes widmet sich jedoch dem 19. Jahrhundert. Der 150. Todestag des in Reutlingen geborenen Dichters, Publizisten und Literaturwissenschaftlers Hermann Kurz (1813–1873) gab den Anlass für gleich zwei Beiträge: Lisa S. Maier, Kurz-Stipendiatin der Stadt Reutlingen, bearbeitete den Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und dem Münchner Literaten Paul Heyse. Die rund 700 in der Bayerischen Staatsbibliothek überlieferten Briefe reichen von 1853 bis zu Kurz‘ Todesjahr 1873. Sie geben nicht nur Aufschluss über literarische Prozesse, sondern auch über das Alltagsleben der ungleichen Freunde. Stefan Knödler untersucht anhand der Akten des Tübinger Wilhelmsstifts und des Universitätsarchivs die Tübinger Jahre Kurzʼ als Theologiestudent und als Bibliothekar.
Die ganze Spannbreite einer gewachsenen und vielgestaltiger gewordenen Reutlinger Stadtgesellschaft im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wird in zwei Lebensbildern von Helmut Treutlein und Jürgen Quack deutlich. Helmut Treutlein befasst sich mit dem Gründer des Reutlinger Ortsvereins der SPD, dem heute nahezu in Vergessenheit geratenen gelernten Weber Carl Zirbs (1837–1891), der um 1870 nach Reutlingen kam. Für das christlich-pietistisch gesinnte Reutlingen steht die Arbeit von Jürgen Quack über den Chinamissionar Karl Zwissler (1875–1923), Sohn eines Reutlinger Schuhmachers.
Der mentalen, gesellschaftlichen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs und damit der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts widmet sich der Historiker Philipp Klais zu den Kriegerdenkmalen des Ersten Weltkriegs in Reutlingen. Nachdem sich Wolfgang Jung schon 2012 eindringlich mit dem umstrittenen Reutlinger Denkmal auf dem Friedhof Unter den Linden beschäftigt hat, stehen bei Klais vor allem die Denkmäler in den Stadtbezirken im Mittelpunkt. Darüber hinaus widmet er sich den kleineren, manchmal recht versteckten Erinnerungszeichen an die Kriegstoten, die aber für die Mentalitätsgeschichte der Weimarer Jahre große Aussagekraft haben.
In die dunklen Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft führt der Beitrag des amerikanischen Holocaust-Forschers und Mediziners Anthony L. Gard. Sein Fokus liegt auf der Verfolgung der Sinti und Roma in Europa. Gard gelangt zu der durchaus bemerkenswerten Erkenntnis, dass die in Teilen schon länger bekannten Briefe der aus Reutlingen deportierten Sintifamilie Reinhardt die weltweit einzigen aus dem Konzentrationslager Auschwitz sind, die die Zeiten überdauert haben. Das heute noch in Privatbesitz befindliche Briefkonvolut steht dementsprechend im Mittelpunkt seines Aufsatzes „‚Unser Herz ist gebrochen genug‘ – Die Reinhardt-Briefe vom Gerichtsgefängnis Ludwigsburg und dem Zigeunerfamilienlager im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“.
Schließlich wird mit der Schriftfassung des Vortrags des Archivmitarbeiters Gerald Kronberger zur Hesse-Tagung des Stadtarchivs im Jahr 2022 über „Eine Fundgrube kulturgeschichtlicher Art“ der besondere Quellenwert des Nachlasses von Ludwig Finckh in den Blick genommen. Darin finden sich nicht nur etliche Briefe des Literaturnobelpreisträgers, mit dem Finckh seit Studienzeiten in Verbindung stand. Auch das berühmteste Stück, Hesses Original-Manuskript seines frühen Erfolgswerkes ‚Unterm Rad‘, ist Bestandteil des Nachlasses Finckh im hiesigen Stadtarchiv.
Wie üblich beschließen die Besprechungen neu erschienener Bücher zur Landes-, Regional- und Ortsgeschichte den Band, der ab sofort im Buchhandel im Stadtarchiv erhältlich ist.
Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 62 (2023), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein (Redaktion: Roland Deigendesch). 328 S., zahlreiche, teils farbige Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISSN 0486-5901.