
Die Vielfalt der Themen des 63. Bandes der Reutlinger Geschichtsblätter reicht vom ausgehenden Mittelalter bis zu den Entwicklungen der Stadt auf künstlerischem Gebiet nach 1945. Über die Reutlinger Stadtgeschichte ist ebenso etwas zu erfahren wie über interessante historische Fassetten von der Zwiefalter Alb.
Den Auftakt machen die beiden Musikhistoriker Joachim Kremer und Franz Körndle, die am Reutlinger Beispiel über die Musik in schwäbischen Reichsstädten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit schreiben. Joachim Kremer gelingt dabei die Entdeckung einer Komposition aus dem 18. Jahrhundert, die dem Reutlinger Kantor und Organisten Johannes Kurz zugeschrieben werden kann. Weiter bringt der Tübinger Kirchenhistoriker Jürgen Kampmann seinen Vortrag zum Jubiläumsjahr 500 Jahre Reutlinger Markteid zum Abdruck. Mit den „theologischen Akzentsetzungen bei der Hinwendung zur Reformation in Reutlingen“ befasst er sich mit Reutlingens Reformator Matthäus Alber und seiner besonderen Stellung bei der Glaubenserneuerung im Südwesten. Einen Blick ins 19. Jahrhundert ermöglicht Reutlingens List-Forscher Eugen Wendler. Einer Zufallsentdeckung verdanken sich seine Überlegungen zu Gerichtshändeln in Urach, bei dem sich der junge Verwaltungsfachmann List wohl für den dortigen Schwager Johannes Deusch einsetzte.
Einen Schwerpunkt stellen zwei Beiträge zu dem Gestapomann und Kunstexperten Alfred Hagenlocher (1914–1998) dar. Letztlich gehen beide Aufsätze auf Vorträge beim Reutlinger Geschichtsverein zurück: Friedemann Rincke vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg schildert eindringlich Hagenlochers verbrecherisches Wirken in der Stuttgarter Gestapozentrale „Hotel Silber“ und sein nachgerade abenteuerliches Lügengebäude, mit dem er seinen Kopf nach Kriegsende aus der Schlinge zog. Der frühere Kulturamtsleiter Dr. Werner Ströbele hat sich dann auf Hagenlochers Reutlinger Spuren begeben. Anhand neuer Archivüberlieferung geht er der Frage nach, wie es dem künstlerischen Laien gelingen konnte, in den Nachkriegsjahren den Rang als gefragter Kunstexperte zu erlagen. So nebenbei klärt Ströbele auch die Hintergründe auf, wie die Hans-Thoma-Gesellschaft (der heutige Kunstverein) von Frankfurt nach Reutlingen kam. Daran schließt sich ein bislang gänzlich unbekanntes, bewegendes Kapitel der NS-Zeit an, auf das Markus Seiz im einstigen Firmenarchiv Erwin Seiz gestoßen ist. Im Mittelpunkt stehen die freundschaftlichen Kontakte zwischen diesem Reutlinger Unternehmer und dem sächsischen Textilfachmann Walter Cramer, einem bedeutenden Mann des Goerdelerkreises in Sachsen, der im Gefolge des 20. Juli 1944 hingerichtet wurde.
Den Schwerpunkt am Ende bilden drei Beiträge von renommierten Fachleuten zu besonderen Kapiteln aus dem historisch von kleinen Adelsherrschaften und dem Kloster Zwiefalten geprägten südlichen Kreisgebiet. Der Geograph und Historiker Rainer Loose veröffentlicht eine Mühlenordnung der Abtei Zwiefalten vom Ende des 17. Jahrhunderts, die eindrucksvoll die wirtschaftliche und auch soziale Bedeutung dieser herrschaftlichen Einrichtung darlegt. Etwa einhundert Jahre später wollen die Einwohner des kleinen Weilers Dürrenstetten über dem Großen Lautertal die drückende Leibeigenschaft abschütteln. Im Schatten von Aufklärung und Französischer Revolution entstand um 1792/93 die Eingabe der Bauern an den im fernen Wien residierenden Grundherrn, das der Frühneuzeithistoriker Paul Münch in den zeitgeschichtlichen Horizont einordnet. Den Schluss macht der Landeshistoriker Wilfried Setzler aus Tübingen, der die nachgerade atemberaubende Lebensgeschichte von Carl Graf von Normann-Ehrenfels, ein Sohn des bekannten württembergischen Staatsrats, und sein Ende im „Freiheitskampf“ der Griechen lebendig werden lässt. Der Beitrag erinnert zudem an eine breite Bewegung der „Philhellenen“, die nicht zuletzt von dem Dichter Ludwig Uhland maßgeblich gefördert wurde. Wie üblich beschließen die Besprechungen neu erschienener Bücher zur Landes-, Regional- und Ortsgeschichte den erstmals beim Verlag Regionalkultur in Ubstadt-Weiher erschienenen Band, der ab sofort im Buchhandel erhältlich ist.
Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge 63 (2024), hrsg. von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein. Verlag Regionalkultur Ubstadt-Weiher. 304 S., zahlreiche Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag, Preis: 25,00 Euro. ISBN 978-3-95505-494-6