
Der Reutlinger Geschichtsverein darf 2025 ein Jubiläum feiern: Den Schiedweckenabend des Vereins mit Pasteten und Vortrag gibt es seit 50 Jahren! Am 25. Februar 1975 lud der Geschichtsverein zum ersten Mal zu einem Pastetenessen ein. Wie lief das damals ab? Zunächst gab es einen Vortrag im Saal des Heimatmuseums, Gymnasialprofessor Heinrich Betz referierte über den Bauernkrieg. Anschließend gingen die Besucher des Vortrags ab 21 Uhr in den Ratskeller zum Schiedweckenessen. Wie es dazu kam, war dem Programmprospekt von damals zu entnehmen: Der Geschäftsführer des Vereins, Dr. Paul Schwarz, stellte bei der Terminplanung fest, dass der Tag, an dem der Bauernkriegsvortrag stattfinden sollte, der „Reutlinger Schiedwecken- oder Pastetentag“ war. Offenbar ein Datum, auf das Rücksicht genommen werden musste, also wurde Vortrag und Traditionsessen verbunden. Diese gemütliche Nachsitzung fand so großen Anklang, dass sie im nächsten Jahr gleich wiederholt wurde. Dem Geschichtsverein ist damit die Transformation eines alten Brauches in die moderne Zeit gelungen. Der Schiedwecken war ursprünglich das Abschiedsessen in den früher üblichen Lichtstuben. In Reutlingen waren diese Treffen vor allem von jungen Leuten in Privathäusern, die dem Sparen von Licht- und Heizenergie dienten, bis ins 19. Jahrhundert üblich.
Bald suchte der Verein eine größere Bleibe für die Veranstaltung. Das geschah 1979. Anfangs Februar lud der Geschichtsverein ins Gasthaus Harmonie in der oberen Wilhelmstraße ein. Das Pastetenstück wurde dort für 10 Mark angeboten. Die Zahl der Rückmeldungen war jedoch so groß, dass ein noch größerer Raum gesucht werden musste. Und wie dem Reutlinger General-Anzeiger vom 15.3.1979 zu entnehmen ist, wurde die Veranstaltung in die Julius-Kemmler-Halle nach Betzingen verlegt. Nicht nur bei Mitgliedern des Geschichtsvereins, sondern auch bei der Verwaltung, bei Gemeinderat, Parteien und Institutionen sowie bei der Öffentlichkeit allgemein hatte das Interesse enorm zugenommen. Auch die Kemmlerhalle war dann restlos ausgebucht, so großen Anklang hatte die neue „Tradition“ des Pastetenessens gefunden. Der Vorsitzende des Geschichtsvereins, Oberbürgermeister Dr. Manfred Oechsle, freute sich in seiner Begrüßung über das rege Interesse in der Veranstaltung und stellte in Aussicht, den Traditionstermin angesichts des erfreulichen Trends künftig in die List-Halle zu verlegen. Und alle waren von den Pasteten angetan, damals konnte man sogar noch Nachfassen, was – wie der Zeitungsreporter feststellte – der Oberbürgermeister sich nicht hat nehmen lassen.
Im Jahr darauf, 1980, war aber die Listhalle wegen des Bundestagswahlkampfes und des damit verbundenen Besuches eines prominenten Wahlkämpfers bereits belegt, so dass der Schiedweckenabend erneut in der Kemmlerhalle in Betzingen abgehalten wurde. Dabei blieb es denn auch lange: Über 34 Jahre versammelten sich die Mitglieder des Geschichtsvereins und viele von denen die in Reutlingen Rang und Namen hatten sowie historisch Interessierte in der Betzinger Kemmlerhalle. In vertrauter Gemütlichkeit pflegte man erfolgreich das alljährliche Schiedweckenessen.
Mit der Fertigstellung der Stadthalle Reutlingen verlegte der Geschichtsverein dann von 2013 an seine Traditionsveranstaltung in deren neuen Großen Saal. Damit war sie wieder wie in den ersten Jahren in der Mitte Reutlingens beheimatet. Und der anhaltend gute Besuch mit den jährlich um die 300 Interessierten zeigt: Es ist eine gute Sache, einmal im Jahr mit dem Geschichtsverein gemütlich zusammenzusitzen, wie es der Oberbürgermeister 1980 ausdrückte. Neben den Pasteten von der Bio-Bäckerei Berger sind es auch die interessanten Vorträge, die stets zum Gelingen der Veranstaltung beitragen. Übrigens ist in diesem Jahr wie vor 50 Jahren der Bauernkrieg 1525 Thema des Vortrags.
Schiedweckentag in Berichten aus dem 19. Jahrhundert:
Beschreibung des Oberamts Reutlingen, 1893:
„Am Mittwoch nach dem Reutlinger Markt, der auf den nach Dienstag nach Reminiscere fällt, wurde der Schiedwecken verzehrt. Das war das Ende der Spinnstuben.
Es war das ursprünglich ein einfacher Abschiedskarz bei Wecken und Wein. Später – es sind wohl noch keine 100 Jahre – wurde der Wecken durch Pasteten ersetzt, Kuchen aus Butterteig, gefüllt mit großen Kalbfleischstücken, die – so wird erzählt- durch eine Frau von St. Gallen, wo sie gedient hatte, nach Reutlingen verpflanzt worden sind. Diese Pasteten wurden eine Lieblingsspeise des Reutlingers, die fortan bei Taufen, Hochzeiten, besonders aber am Schiedweckentag kaum je fehlen durfte, während die Karzen selbst mehr und mehr verschwanden.“
Anton Birlinger: Volksthümliches aus Schwaben, Bd. 2, Freiburg 1862:
„SchiedweckenSeit mehr denn 300 Jahren bildete in Reutlingen die „Spitzenklöppelei“ einen ausgedehnten Erwerbszweig. Die betreffende Klasse Arbeiter und Arbeiterinnen kommen den Winter über bald in diesem, bald in jenem Hause zusammen, um die Arbeit kurzweiliger zu machen. Solche Zusammenkünfte finden im Winter täglich statt und heißen „Karz“. Da man oft bis in die späte Nacht hinein arbeitete, so wollte man sich beim Aufhören dieser Kärze auch noch gütlich tun und hielt je am letzten Mittwoch des Februar einen besonderen Abschidskarz, an welchem das Nachtarbeiten geschlossen und die Teilnehmer mit Wein und wecken traktirt wurden. Im letzten Jahrhundert wurden die Wecken in Pasteten (Kuchen von Butterteig, innen mit Kalbfleisch gefüllt) verwandelt. Noch heute besteht dieser Gebrauch, und es findet sich in ganz Reutlingen unter der arbeitenden Klasse keine Familie, welche an diesem Tag nicht Pasteten backt und den Schidweckabend zu einem Festabend macht. Wer kein Geld hat, gibt eher ein notwendiges Stück aus seiner Haushaltung in’s Leihhaus, als dass er am Schidweck zurückbliebe.“